Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Montag, 16. Januar 2012

16. Januar 1968

Leider ist der Johnson nicht online. Denn dieser Eintrag heute verdient, gele-sen zu werden! Die ganzen knapp fünf Seiten. Da zeigt sich, was ein Schreiber und was ein Schriftsteller ist. (Ich bin – und bleibe wohl – Schreiberling, Lohnschreiberling derzeit sogar nur.) Dr. Walther Wegerecht ist das Thema, Landgerichsdirektor zu Gneez, der den Fall Warning / Hagemeister zu leiten hat, in dem ja Lisbeth und Papenbrock und Semig als Zeugen verwickelt sind. Und er weiß jetzt schon – aus der Nummer kommt er, egal was er anstellt – sauber nicht raus. Erst spät in die Partei eingetreten, mit einer ehrgei-zigen Frau geschlagen (d.h., sie will, dass er Karriere macht, damit sie eine Dienstwohnung in Berlin beziehen kann und solange, während er schuftet, Männerbesuch empfängt, über die er hinwegblickt) und einem letztens gescheiterten Verfahren, was er sich nicht nochmals erlauben darf. Was tun? Sein ehemaliger Kollege, Ramdohr, der wegen „seiner sozialdemokratischen Freunde den Richterstand verlassen musste“ nimmt ‚Rache’, als er ihn besucht, Wegerecht bekommt zu der Sache kein „Bein auf den Boden“ und „die Erholung [war ihm] in Versöhnung und Geselligkeit durch die Finger gerutscht“. Selber lesen! Das ist nämlich eine so prägnante, kleine, präzise und umfassende Charakterstudie, wie man sie selten findet. Persönliche wie ge-sellschaftliche Bedingungen, Ängste und Wünsche sind hier auf kleinstem Raum zusammengefasst und ergeben ein Bild, wo manche Schriftsteller bzw. Schreiberlinge nach 400 Seiten nicht kommen. Und es zeigt die Tragik eines Menschen – oder wird es wohl noch zeigen – der nicht den Mut hat, aus dem System auszusteigen, um sich nicht schuldig zu machen. Und so wie das hier angelegt ist, wird sich Wegerecht schuldig machen – auf die ei-ne oder andere Weise. OK, fragt sich, ob er das System durchschaut. Fragt sich, ob ich das System, das aktuelle, durchschaue, oder ob ich nicht auch mich in der Zwickmühle befinde, in der ich – egal was ich tue – schuldig wer-de. Es ist im Nachhinein immer einfacher, eine Situation zu beurteilen, zu sagen „hättest Du nicht …“. Aber in dem Moment, wo man sich unwohl fühlt, wäre das nicht zumindest der Moment, um inne zu halten? Was ist seinem seine eigene Integrität eigentlich wert? Was kostet ein Charakter?

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