Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 19. November 2011

19. November 1967


Fast scheint es so, als hätte sich Johnson ‚warm’ geschrieben. Schon wieder so ein toller Eintrag. Gesine wird mit gewärmte Taufwasser – „… wo gab es das!“ – getauft und die ganze Gesellschaft ist in unterschiedlichster Stimmung dabei. Das zeichnet Johnson knapp aber wirklich gut. Horst wollte mit Uniform zur Taufe, ist aber von seinem Vater deswegen kräftig zusammengeschissen worden. „Er schrie ganz mühelos, ihm fiel ein Schimpfwort nach dem anderen ein … alles in flüssigem unflätigem Platt …“. Und Horst bekommt beim Mittagessen ein Ultimatum. Entweder er geht nach Brasilien, um den verschollenen Bruder Robert zu suchen, oder er wird wohl nicht den Hof erben. Der alte Papenbrock ist gar nicht so ungeschickt, wenn es darum geht, seinen Sohn von den Nazis wegzubekommen. Ansonsten eine wunderbare Skizze von einer Familienfeier, die von allen beteiligten mit unterschiedlichen Gefühlen und Hoffnungen wahrgenommen werden, ein kleines Kaleidoskop. Und am Ende? Am Ende müssen wir uns wohl von Gesines Vaters verabschieden. Er hat die Koffer gepackt für „den Schnellzug 2 nach Hamburg. Nur fuhr er diesmal allein, und zum letzten Mal.“ Das ist deutlich. Der Schlussdialog zwischen ihm und seiner Frau: „Nun hast du deinen Willen, Lisbeth. – Nun sollst du deinen alle Zeit haben, Heinrich.“ Gesine hat bei der Taufe übrigens drei Namen bekommen, der dritte lautet Albertine, der zweite wird nicht genannt. Und jetzt könnte ich mit meinen eigenen Assoziationen loslegen. Wenn ich Kinder hätte, würde jedes drei Namen bekommen, immer einen auch gegengeschlechtlich. Und Albertine, das ist quasi ne Freundin aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Proust. Und wenn ich es mir so recht überdenke – die beiden haben Ähnlichkeiten.

Freitag, 18. November 2011

18. November 1967


Echt toller Text heute! Wie gestern schon, versteht es Johnson auf ein, zwei Seiten eine Person einzuführen, vorzustellen, dass man meint, man hätte sie letzte Woche bei irgendeiner Gelegenheit kennen gelernt. Diesmal ist es Schwester Magdalena, die Klassenlehrerin von Marie, die Gesine mit einem Brief zu einem Gespräch geladen hat. Es ist ein Geschwurbel, bis sie endlich auf den Punkt kommt. Marie, so stellt sich heraus, hat sich heftig gegen die Vietnam Krieg geäußert, zudem auch gleich noch gegen Präsident Johnson, wenn auch nur indirekt. Das reicht Schwester Magdalena für eine heftige Rüge. Entlarvend für sie wie die Schule der Satz: „Das Institut hätte neulich ein Kind … aus der Schülerschaft gestrichen, weil es am Ende doch nicht imstande war, sich den Vorstellungen der Erzieherinnen von einem wünschenswertem Kind zu nähern.“ Marie ist also in höchster Gefahr, denn so, wie wir sie nun kennen gelernt haben, ist sie nun wahrlich nicht auf dem Mund gefallen. Aber Schwester Magdalena hat offiziell natürlich nur Angst um das seelische Wohlbefinden. Das alles ist zeitlich schwer einzuordnen, denn die heutige Szene spielt, wie immer wenn es dort Samstag und hier Freitag ist, auf der South Ferry. Marie brauchte einige Zeit, bis sie mit dem Thema hervorkam, dann wird aber schon das Gespräch mit Schwester Magdalena – fällt mir nur so gerade ein, so hieß auch meine zweite Stationsschwester während meines Zivildienstes, eine gewisse Seelenverwandtheit ist nicht zu leugnen – berichtet. Schade, dass wir keine Zeitung haben, die sich mal was traut, denn: „Die New York Times ist nicht der Auffassung, dass Präsident Johnson seine Sache schlechter macht als jene Cartoonfigur Bugs Bunny, die in einem fort Erfindungen bastelt, vorgeblich zum Wohle der Mitmenschen, in der Tat zu ihrem Nachteil und Schaden.“ Übertragen auf heute muss man nur „Präsident Johnson“ gegen „die Regierung von …“ austauschen. Und da gibt es einige europäische Regierungen, die deutsche mit Sicherheit nicht ausgeschlossen.

Donnerstag, 17. November 2011

17. November 1967

Der alte Papenbrock und Cressphal bei Avenarius Kollmorgen, dem Anwalt, der gerne mal ein Gläschen trinkt. Papenbrock will die Überschreibung des Gründstückes und des Hauses für Gesine festlegen, aber so, dass Cresspahl nichts davon hat. Der Schuss geht nach hinten los, denn Cressphal macht ihm klar, dass Grundstück und Haus wenig wert sind, er da eh nicht wird arbeiten können, es also an Wert noch weiter verlieren würde. Viel besser wäre es doch, alles zu verkaufen, das Geld anzulegen und es dann Gesine zu geben, wenn sie erwachsen ist. Kollmorgen freut sich sehr über Rede und Gegenrede, sieht Papenbrock als Verlierer. Wie genau jetzt entschieden ist – das sagt Johnson uns nicht. Schönes Portrait von Kollmorgen übrigens und schön u.a. dieser Satz: „Er notierte sich diesen Fehler in seinem Kopf, rechts oberhalb seines fettigen haarigen Ohres, zum späteren Auskosten.“

Mittwoch, 16. November 2011

16. November 1967


Ups, Gesine lernt tschechisch. So verstehe ich das jedenfalls, auch wenn im Text von ‚wir’ gesprochen wird. Marie scheint nicht dabei zu sein. Der Lehrer ist der alte, arme, aber würdige Professor Kreslils, dessen Frau Jitka Kvatshkova die Anmeldedame mimt, als sei man bei irgendeiner hochgestellten Persönlichkeit. Manchmal muss man den Schein wahren, um die Selbstachtung nicht zu verlieren. Es geht sehr altertümlich während des Unterrichts zu und Gesine scheint nicht die Flotteste zu sein. Aber warum macht sie das? Und warum nicht in einer Sprachschule?

Dienstag, 15. November 2011

15. November 1967


Nach den üblichen Meldungen aus der NYT, Johnson kann die herrlich trocken zusammenfassen, ein Gespräch zwischen Marie und Gesine. Es geht um die Taufe Gesine am 19. März 1933. Cresspahl kümmert sich darum, spricht bei Pfarrer Brüshaver vor – den hatten wir schon ausführlich – der ihm wie ein Beamter vorkommt. Tierarzt Semig wird Taufpate, auch wenn alle denken, er sei Jude – was er aber nun mal nicht ist. Marie versteht es nicht ganz bzw. will es nicht verstehen, dass Cresspahl jetzt doch wohl klein beigibt, alles Lisbeth recht macht und wohl beabsichtigt, in Jerichow zu bleiben. „Warum sagt er nicht:“ fragt sie Gesine „Nimm das Kind, nimm die zusammen, geh hinter mir her?“ und bekommt die Antwort: „Du bist doch sonst nicht für Gewalt.“ Schon spannend, wie Marie merkt – aber vielleicht weiß sie ja auch einfach mehr als ich – dass Cresspahl ‚schwächelt’, oder wie soll man das ausdrücken? Ist seine Liebe zu Lisbeth wirklich so groß? Ich wage letzteres ja zu bezweifeln. Mir will es vielmehr so scheinen, dass er sich seinem Schicksal hingibt, weil er wenig Lust und / oder Kraft hat, eine Kraftprobe zu wagen. Das Adjektiv „feige“, wie Marie ihn bezeichnet, trifft vielleicht nicht ganz – aber falsch ist es auch nicht.

Montag, 14. November 2011

14. November 1967


Mal wieder etwas sperrig heute. Johnson ist nicht sehr geeignet, ihn zusammen zu fassen, auf das Wesentliche zu reduzieren. Spricht jetzt aber nicht gegen ihn! Cressphal, schon seit 14 Tagen wieder in Deutschland geht durch Jerichow. Und alle die ihn sehen, denken, er ist auf Abschiedstour, da er seine Werkstatt ja wohl nicht länger alleine lassen kann. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Cresspahl wohl bleiben wird, aber das ist ein Gefühl. Passiert ja nicht selten, dass man denkt etwas oder einen anderen einschätzen zu können, alle Umstände sprechen für eine gewisse Aktion – und dann wird es doch eine vollkommen andere, weil man ein kleines Detail übersehen oder nicht ausreichend gewürdigt hat. Ansonsten Bericht über die kleinen Veränderungen in der Stadt, wie die Nazis Zentimeter für Zentimeter an Boden gewinnen. Nie spektakulär, langsam halt, aber beständig. Einen langen Atem braucht man für Johnson …

Sonntag, 13. November 2011

13. November 1967


Amanda Willson, eine Kollegin von Gesine wird vorgestellt und beschrieben, wie sich der Bus durch den Feierabendverkehr quält und „das Grünlicht mehrmals von fern sterben sieht“.