Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 7. Januar 2012

7. Januar 1968

Marie und Gesine auf einem winterlichen Sparziergang. Marie ist von Robert (auch) nicht überzeugt. Sie gibt, auf Nachfrage, kurze Rückmeldungen zu denen Leuten, von denen Gesine erzählt. Albert Papenbrock ist ihr fast der liebste, über ihre Großmutter will sie sich nicht auslassen, Cresspahl würde sie verachten, wäre es nicht Gesines Vater. Nicht viel heute. Ich mag ir-gendwie Cresspahl, auch wenn er mir etwas suspekt erscheint, ist wohl seine Ruhe, die es mir antut.

Freitag, 6. Januar 2012

6. Januar 1968

Der ominöse Robert ist heute Thema. Und er bleibt ominös, denn selbst die Eltern sind sich nicht so wirklich sicher, ob er es denn überhaupt ist. Zu stark hat er sich verändert, spricht kein Platt mehr usw. Er erzählt Räuberpistolen aus seiner Zeit in Süd- und Nordamerika, viel Glaubwürdigkeit will ich ihm da nicht zugestehen. Er besucht die Eltern nur einmal, ansonsten hat er als Nazi genug anderes zu tun. Es bleibt ominös.

Donnerstag, 5. Januar 2012

5. Januar 1968

Wie fast immer, Nachrichten aus Vietnam. Anzahl der Getöteten in der letz-ten Woche: 185 Amerikaner, 227 Südvietnamesen, 37 Alliierte. Für das Jahr 1967 insgesamt 9.535 tote Amerikaner, seit Beginn des Krieges 15.997. Schnitt. Die NYT berichtet über den Prozess gegen LeRoi Jones, Neger, kämpferischer Schriftsteller, der zu zweieinhalb Jahren und 1.000 Dollar ver-urteilt wird, weil er während der Aufstände in New Jersy im letzten Sommer zwei Revolver bei sich hatte. Die Härte der Strafe, so der Richter, begründet sich auch auf eins seiner Gedichte, das „Schwarze Volk“ gerichtet ist (s.u.). Nun, friedlich ist es gerade nicht. Aber mal ehrlich, ist so ein Gedicht nicht auch mal langsam für diese Nation nötig? Schätzungsweise liest es dann nur keiner, denn mit Protesten haben wir es nicht so, nehmen wir mal Atomkraft und Stuttgart 21 aus. Ansonsten sind wir eine überaus duldsame Nation, die zwar hin und wieder ausnahmsweise mal auf intellektuellem Niveau jammert und Verbesserungen fordert –aber die breite Masse, die bleibt ruhig, obwohl es sie betrifft. Ist es überbordender Individualismus? Ist es eine Entsozialisierung der Gesellschaft? Egoismus? Warum wird sich in Internetforen und sonst wo aufgeregt wie nichts – aber nach den Worten folgen keine Taten, mal abgesehen von irgendwelchen Extremisten. „Alle Macht geht vom Volke aus“ heißt es, aber das Volk will die Macht anscheinend nicht mehr. Ich rätsel nach wie vor darüber, aber erkenne ich mich in dem Gesamten natürlich leider auch selbst. Bevor ich auf eine Demo gehe …! Hat die Gesellschaft den Glauben an ihre Macht verloren? Ist es doch einfach nur zu anstrengend? Welches Initial ist notwendig, um die kleinen Flammen, die, meiner Meinung nach, in den meisten dann doch noch brennt, endlich zum lodern zu bekommen?

All the stores will open if
you will say the magic words.
The magic words are: Up
against the wall mother blank
this is a stickup! Or: Smash
the window at night (these are
magic actions) smash the windows
daytime, anytime, together,
let’s smash the windows drag
the blank from in there. No
money down. No time to pay.
Just take what you want. The
magic dance in the street. Run
up and down Broad Street
niggers, take the blank you
want. Take their lives if
need be, but get what you
want, what you need.

(Mit Dank mal wieder an: Johnsons „Jahrestage“ – Der Kommentar. Heraus-gegeben von Holger Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth (†) und Ulrich Fries. Unter Mitarbeit von Thomas Schmidt, Birgit Funke, Thomas Geiser, Ingeborg Gerlach und Rudolf Gerstenberg. https://www.phf.uni-rostock.de/institut/igerman/johnson/johnkomm/kontakt.html)

Mittwoch, 4. Januar 2012

4. Januar 1968

Es geht um die Wohnung in New York und Maries Vorurteile gegenüber Indi-anern. Kann mich heute nicht darauf einlassen – der nächste Termin drängt.

Dienstag, 3. Januar 2012

3. Januar 1968

„Vorher wollten Jerichow sich wenigstens einen Juden vom Hals schaffen.“ Was recht brutal klingt, entpuppt sich dann – überraschenderweise? – als weniger brutal? Mit Wissen der Geschichte, ist es überhaupt nicht brutal sondern geradezu fürsorglich, wenn vielleicht auch ‚hilflos fürsorglich’. Ohne Wissen der Geschichte ist es brutal, ein Rauswurf, eine Schmähung. Denn man versucht den ehemaligen Tierarzt Arthur Semig ‚im Guten’ loszuwerden, will ihn abschieben nach Österreich zu einem Grafen, der genug Geld hat, sich einen Veterinär zu halten, man will sein Haus kaufen, damit er genug Geld zur Auswanderung hat. Doch Semig sieht es nicht ein – wie denn auch? – und verbietet sich die Einmischung. Für einen anderen Juden, Oskar Tan-nebaum, legen sie sich dagegen nicht ins Zeugs, der war ja „im besten Fall vor zehn Jahren nach Jerichow gekommen“. Mensch ist eben nicht gleich Mensch. Erinnert mich an die heutige leicht absurde Diskussion, dass Del-phine genauso intelligent seien wie Menschen, sich Namen (!) geben würden und man daher das Verhältnis Mensch-Delphin zu überdenken hätte. Das würde, so der Kollege, sich dann doch wesentlich ändern (und zu den Tieren allgemein, denn auch ein Schwein sei ja nicht gerade doof usw., usf.). Das sehe ich jedenfalls nicht, so lange eine Menschheitsgruppe der anderen den Schädel einschlägt. Fazit hinsichtlich Semig übrigens: „Und Papenbrock sag-te: Wenn ihr ich denn loshaben wollt, im Guten geht er nicht. Versucht es doch mal im Bösen!“

Montag, 2. Januar 2012

2. Januar 1968

Keine Ahnung, warum ich mir gerade „Breakfast in America“ von Supertamp angemacht habe – wohl Jahre nicht mehr gehört. Passt auch so überhaupt nicht zum Eintrag, aber woher sollte ich das vorher wissen? Gesine ist mal wieder schwimmen und gönnt sich einen Saunaggang mit wildfremden Frau-en. Das zentrale Thema: Vergewaltigungen, „die zum Leben auf  der Oberen Westseite von New York gehören“. Und die gemeinsame Erfahrung: „Auf die Polizei! Zeitverschwendung.“ Man glaubt ihnen ja nicht, Männer decken Männer. Ich möchte mich als Mann ja nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber ich glaube schon, dass das heute dann doch etwas besser geworden ist. Sie sprechen vollkommen nüchtern und unaufgeregt darüber, wissen, dass sie kaum eine ‚Waffe’ dagegen haben. Nur die17-jährige Marjorie, macht vor, was sie als Gegenwehr vorführen würde, „indem sie unter dem strömenden Wasser nackt und fröhlich antritt wie ein Tambourmädchen bei der Parade, mit genussvoll hochfahrendem Knie.“ Und aus eigener Erfahrunng – nicht weil ich eine Frau vergewaltigen wollte oder so, nein, eher aus Unachtsamkeit bei einer kameradschaftlichen Rangelei – das tut so was von weh!

Sonntag, 1. Januar 2012

1. Januar 1968

Heute lüftet Marie das Geheimnis, was sie seit Tagen in ihrem Zimmer für Gesine bastelt, ein Wunsch, vom dem Gesine nichts weiß: Es ist das Haus in Jerichow, wie es Marie aus den Erzählungen kennt. Wohl nicht schlecht ge-macht und getroffen und auch nicht ohne Eigennutz: „Dann werde ich auch den Dachboden ausbauen. Für das, was nun kommt.“