Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 21. Januar 2012

21. Januar 1968

Semig reist. Er verlässt das Land. Er will, das letzte Stück ego, was ihm noch bleibt, nicht von „Auswanderung“ reden, sondern von „Reise“. Seine Frau hat alles – derweil er in Haft war – organisiert. Was sie erleben musste, behält sie für sich. Die Judenfeindlichkeit ist in der Bevölkerung nicht nur angekommen, sondern auch ausgebrochen. Doch sie bleibt stolz, lässt sich nicht brechen. Als harter Kontrast dagegen: die NYT verzichtet nach 117 Jahren auf den Punkt hinter ihrem Titel. Was für einen jeden halt so wichtig ist.

Freitag, 20. Januar 2012

20. Januar 1968

Ich kann nur vermuten, dass es sich um einen Dialog zwischen Gesine und Johnson handelt – oder eben jemand anderem, der sie gut kennt. Namen werden keine genannt. Johnons – oder eben jemand anderes – fühlt Gesine ganz schön auf den Zahn, die Chancen hat, die Karriereleiter in der Bank hochzufallen mit der Zuständigkeit für Tschechien. Inhaltliche Bedenken, immerhin herrscht dort der böse, böse Kommunismus, lässt sie nicht an sich ran. Aber als ihr dann vorgehalten wird, bei so einem Posten müsste sie nach Europa umziehen, wird sie dann doch stutzig. Nicht, weil sie nicht noch mal in Frankfurt leben will, sondern – ja genau – wegen Marie. Und da frag ich mich manchmal, ob man Kinder nicht zu sehr beschützt, ihnen nicht das zutraut, was sie können. Ich musste auch mal umziehen, da war ich wohl so alt wie Gesine. Es waren zwar nur drei Kilometer oder so – aber 1.000 wären genauso weit gewesen. OK, es war schwer – und mit etwas mehr Unterstüt-zung wäre es sogar richtig aufregend und gut gewesen.

Donnerstag, 19. Januar 2012

19. Januar 1968

Lisbeth tut sich schwer mit den Geschehnissen, sie hat schlechtes Gewissen, dass sie vor Gericht gegen einen anderen ausgesagt hat. Sie zieht sich noch mehr zurück, während das Dorf ihr Respekt für ihren Mut zollt. Dann, auf drängendes Nachfragen von Marie die Geschichte mit der Regentonne. Um an eine Katze zu steigen klettert die kleine Gesine eine Regentonne hoch und fällt rein. Das ‚Pikante’: Lisbeth schaut zu und tut nichts. Wäre Cresspahl nicht gerade um die Ecke gekommen …

Mittwoch, 18. Januar 2012

18. Januar 1968

Welche Minioritäten sind bei der NYT beschäftigt und entspricht das dem gesellschaftlichen Schnitt? Nein. Nur 1,5 Prozent der 300 Reporter haben schwarze Hautfarbe. Proporz das Thema – bei der NYT damals nicht die Fragen nach dem Geschlecht, sondern nach Hautfarbe und Religion.

Dienstag, 17. Januar 2012

17. Januar 1968

„Wegerecht wurde gerettet.“ Ein Anruf von ‚ganz oben’ und plötzlich ist die Staatsanwaltschaft milde wie kaum etwas. Wegerecht kann sich nur wundern, wie der Prozess verläuft, sie die Zeugen reagieren – Lisbeth gibt eine gute Figur ab („Das habe nichts mit der Begünstigung von Juden zu tun, nur mit der Wahrheit“) – und „Semig bekam Freilassung, in einem Nebensatz“. Alles vom Tisch. Marie ist mit der Geschichte nicht zufrieden, „das Unglimpfliches angekündigt war, und kam nicht“. Gesine versucht die Hintergründe zu verdeutlichen – oder erfindet sie es gerade in dem Moment. Denn plötzlich taucht nach langer Zeit Peter Niebuhr wieder auf, der Student, der jetzt im Büro des „Reichsnährstandsführer“ – gab’s den wirklich? –  beschäftigt ist und so Drähte ziehen kann. Und Marie nach dieser Erklärung: „Das glaube ich sofort“. Mir bleibt fraglich, ob es Niebuhr war – aber dass man mit einem Telefonat von oben was richten kann, das ist auch heute noch so, wenn auch nicht mehr unbedingt in der Justiz – Gott sei Dank.

Montag, 16. Januar 2012

16. Januar 1968

Leider ist der Johnson nicht online. Denn dieser Eintrag heute verdient, gele-sen zu werden! Die ganzen knapp fünf Seiten. Da zeigt sich, was ein Schreiber und was ein Schriftsteller ist. (Ich bin – und bleibe wohl – Schreiberling, Lohnschreiberling derzeit sogar nur.) Dr. Walther Wegerecht ist das Thema, Landgerichsdirektor zu Gneez, der den Fall Warning / Hagemeister zu leiten hat, in dem ja Lisbeth und Papenbrock und Semig als Zeugen verwickelt sind. Und er weiß jetzt schon – aus der Nummer kommt er, egal was er anstellt – sauber nicht raus. Erst spät in die Partei eingetreten, mit einer ehrgei-zigen Frau geschlagen (d.h., sie will, dass er Karriere macht, damit sie eine Dienstwohnung in Berlin beziehen kann und solange, während er schuftet, Männerbesuch empfängt, über die er hinwegblickt) und einem letztens gescheiterten Verfahren, was er sich nicht nochmals erlauben darf. Was tun? Sein ehemaliger Kollege, Ramdohr, der wegen „seiner sozialdemokratischen Freunde den Richterstand verlassen musste“ nimmt ‚Rache’, als er ihn besucht, Wegerecht bekommt zu der Sache kein „Bein auf den Boden“ und „die Erholung [war ihm] in Versöhnung und Geselligkeit durch die Finger gerutscht“. Selber lesen! Das ist nämlich eine so prägnante, kleine, präzise und umfassende Charakterstudie, wie man sie selten findet. Persönliche wie ge-sellschaftliche Bedingungen, Ängste und Wünsche sind hier auf kleinstem Raum zusammengefasst und ergeben ein Bild, wo manche Schriftsteller bzw. Schreiberlinge nach 400 Seiten nicht kommen. Und es zeigt die Tragik eines Menschen – oder wird es wohl noch zeigen – der nicht den Mut hat, aus dem System auszusteigen, um sich nicht schuldig zu machen. Und so wie das hier angelegt ist, wird sich Wegerecht schuldig machen – auf die ei-ne oder andere Weise. OK, fragt sich, ob er das System durchschaut. Fragt sich, ob ich das System, das aktuelle, durchschaue, oder ob ich nicht auch mich in der Zwickmühle befinde, in der ich – egal was ich tue – schuldig wer-de. Es ist im Nachhinein immer einfacher, eine Situation zu beurteilen, zu sagen „hättest Du nicht …“. Aber in dem Moment, wo man sich unwohl fühlt, wäre das nicht zumindest der Moment, um inne zu halten? Was ist seinem seine eigene Integrität eigentlich wert? Was kostet ein Charakter?

Sonntag, 15. Januar 2012

15. Januar 1968

Vorstellung des Kinderarztes von Marie, Felix J. Rydz, ein emigrierter Pole, der eine Zeit lang in Berlin lebte, die Flucht nach Amerika schaffte und dessen Familie in Polen ausgerottet wurde.