Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 24. September 2011

24. September 1967


Ausschnitte aus der New York Times heute: „Die Deutschamerikaner marschieren mit Jodeln und hübschen Frauleins“ durch die Stadt, wobei sich auch ein paar Vereine angeschlossen haben, die mit Deutschland nun so gar nix zu tun haben; „Kleiderhändler im Laden erschlagen aufgefunden“, ein Überlebender eines deutschen Konzentrationslager ist das Opfer und: „Gestern ist der Herbst frisch und strahlend eingetroffen. Die amtliche Wachablösung trat um 1 Uhr 38 Minuten ein …“. Äh, bei uns gestern auch?

Freitag, 23. September 2011

23. September 1967

Die Hochzeitsglocken läuten. Liesbeth und Cresphal heiraten. Mit allem Pomp und Gloria der damaligen Zeit auf dem Land, in der kleinen Stadt. Und alle sind froh, dass es dann auch mal vorbei ist, denn am Vorabend zerstreiten sich die Familienangehörigen „kreuz und quer“ – aber das kennt man ja selber. Photos werden gemacht.

Donnerstag, 22. September 2011

22. September 1967


Der Außenminister lässt Tochter einen Neger heiraten. Gilt wohl als Besonderheit. Dann noch ein nerviges Telefonat über Marie.

21. September 1967


Vorweg: Das war der erste Monat von zwölf! Heute wird uns Mr. Robinson vorgestellt, der Fahrstuhlführer, der beginnt, Gesine auf Deutsch zu grüßen, weil er einige Jahre, als Armeeangehöriger in Deutschland verbracht hat. Als Farbiger war er „Amerikaner 2. Klasse“. Auch in der Nähe von Flossenbürg stationiert gewesen, wo es ein Konzentrationslager gab. Das Thema der ‚deutschen Vergangenheit’ ist viel präsenter als heute, was nicht wirklich wundert. Aber Flossenbürg war für mich zumindest gleich ein Begriff. Schätze, das wird von Bedeutung noch sein.  

Dienstag, 20. September 2011

20. September 1967

Wieder mal 36 Jahre früher. Liesbeth besucht ihre Freundin Leslie Dansmann in Gral, also nicht wirklich. Sie sehen sich zwar schon, und Liesbeth kauft ausreichend Postkarten, fährt aber gleich weiter über Bad Kleinen nach Hamburg. In den Zug steigt auch ein Dr. Erdammer zu, könnte vielleicht wichtig werden, denn in Hamburg ist die Fahrt nicht zu Ende. Sie fliegt in neun (!) Stunden über Bremen und Amsterdam nach London. Von dort weiter nach Richmond zu Cresphal, der von der Aktion nichts weiß. Er ist etwas erschrocken über ihren Einfall, sie wollten doch sparsam sein. Was folgt sind verliebte Gespräche, wo man sich hätte schon früher kennen lernen können usw. Gesine macht ihren Bruder Horst komisch, der im braunen Hemd rum läuft und mit „kleiner, weicher Stimme“ den Vater um Spende für die SA anfleht.  Doof ist sie ja nun wirklich nicht, sie hat darauf geachtet, das Cresphal auch eine Karte aus Gral bekommt. Verliebt halt, verrückt halt, wer kennt das nicht? Ich bin mal fünf Stunden Zug gefahren, um einen Typen drei Stunden zu sehen, um dann wieder fünf Stunden zurückzufahren. Und ich war nicht mal so geschickt wie Gesine damals, die am Ende ihres Besuchs bei ihm sagt: „Ich wollte vorher noch einmal mit Dir schlafen, Heinrich Cresphal, in einem Bett, mein ich.“  Ich hätte damals aber so was von Lust darauf gehabt …

Montag, 19. September 2011

19. September 1967


Überraschender Eintrag. Gesinde wird von dem Erzähler? vom Chronisten? von wem überhaupt? direkt angesprochen. „Dein Kind Miss Cresphal … „ – und es ist anklagend. Weil Marie in einem guten Kindergarten untergebracht war, weil Marie auf eine Privatschule geht, die Geld kostet, weil Marie einen Arzt hat, der auch zu ihr nach Hause kommt. Wer spricht da? Wer erhebt da Anklage, dass Marie es besser hat? Da spricht jemand, der gegen ‚Klassen’ ist, der gleiche Chancen für alle fordert, der sieht, dass Gesine mit dem Gedanken zumindest sympathisiert, aber anders handelt. Da ist einer, der Gesiie in Frage stellt. Ist es einer, der ‚rein’ tut, der wirklich konsequent ist? Einer, der „wahr“ lebt? Oder ist es nur d9ie Stimme der Hoffnung, ‚gerade’ leben zu können? Das schlechte Gewissen, gut zu denken und dann doch mainstream zu leben? Die Stimme in einem, die einem Tag für Tag aufzeigt, wo und wie man sich mal wieder verrät? Wahrhaftigkeit, Konsequenz Begriffe, die man schön findet, aber nicht zu leben weiß? Ein kleiner Text über die die alltäglichen Selbstlügen, die tägliche Selbstberachung, über das tägliche: „ich bin anders, also darf ich …“ Entlarvend.

Sonntag, 18. September 2011

18. September 1967


„Wo wir wohnen ist der Broadway alt.“ Reflexionen über eine Straße, über eine Alltäglichkeit, über etwas, was eben ist. Durch das Aufschreiben wird es bewahrt, wird irgendwann Geschichte, wird Hort von Träumen. Ich hatte mal von einem Projekt in Dänemark (?) gelesen. Da wurde die Bevölkerung aufgerufen für einen bestimmten Tag einen Tagebucheintrag zu schreiben und den dann an eine zentrale Stelle zu schicken. Ich glaube, mit jedem Tag der vergeht, wird die Sammlung immer interessanter. Was mich an den „Jahrestagen“ fasziniert, ist ja auch das Springen in den Zeiten, wie Geschichten zur (eigenen) Geschichte werden, ein Bild abgeben, dass, wenn man sich seine eigenen anschaut meist von Zufällen geprägt ist, nicht vom eigenen Handeln.