Geschichte vom Aufstieg und Niedergang des
Fliegerhorst Mariengabe, Jerichow Nord, wo Cresspahl ja immer mal was zu tun
hat.
Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.
In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.
Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten
Samstag, 7. April 2012
Freitag, 6. April 2012
6. April 1968
Gesine versucht sich an einem
Kondolenzbrief an „Mrs. Martin Luther King“. Es will ihr nicht gelingen und so
lautet die beiden letzte Variationen kurz: „Nachdem ich anfangs mich
entschuldigen wollte für das Telegramm, das meine Tochter gestern abend an Sie
gerichtet hat, möchte ich nur sagen, dass das Kind noch nicht elf Jahre / dass
ich mich nun gerade dem impulisenv und unbeherrschten Ton jenes Telegramms
anschließen möchte, in einer Verf-„
Donnerstag, 5. April 2012
5. April 1968
Am gestrigen Abend ist Martin Luther King erschossen worden. Johnson gibt einen genauen Bericht des Geschehens. Dazwischen 'Volkesstimme': "Heute abend kommt der Aufstand nach New York. ... Bis heute abend können die Neger alle Züge blockieren. ... Die Fahnen auf halbmast! er war doch nicht Kennedy. ... Die Schwarzen gehören ausgeräuchert, Block nach Block. ... Erst die Indianer. Dann die Schwarzen. ..."
Mittwoch, 4. April 2012
4. April 1968
Letzter Kriegssommer. 1944. Gesine wieder bei den Paepckes am Bodden. Alexander holt sie ab, verbringt den ersten Tag mit ihnen - sie sind von ihm begesitert. Am nächsten Tag ist er nicht mehr da - er hatte einen Reisebefehl gehabt und war dennoch ausgestiegen, um zumindest einen Tag mit den Kindern zu verbringen. In der Erinnerung von Gesine sind es schöne, freie Tage, aber: "Heute weiß ich, daß die Ferien von anderer Art waren." Ganz in der Nähe gibt es Konzentrationslager, aber sie weiß als Kind nichts davon. Parallelität der Ereignisse - kann man kaum im Kopf zusammenzwingen.
Dienstag, 3. April 2012
Montag, 2. April 2012
2. April 1968
„Justiz in Mecklenburg während des
Nazikrieges.“ Den Rest der viereinhalb Seiten mit Beispielen kann man sich ja
wohl denken. Darunter auch der Eintrag. “Wilhelm Schröder … sagte … Was du glaubst
heute noch an den Sieg?“ Zwei Jahre hat er dafür bekommen. Martha Baranowska
hat für die gleiche Äußerung Ravensbrück bekommen, über vier Jahre.
Ravensbrück, das war ein Frauen-KZ und Martha habe ich in meinen jungen Jahren
oft in Polen besucht. Sie war „meine polnische Mutter“ und die Gespräche mit
ihr bei ‚ner Flasche Cointreau gehören zu den wichtigsten in meinem Leben. Man
sitzt nicht gerade oft einem KZ-Häftling gegenüber, der von Angesicht zu
Angesicht aus der KZ-Zeit berichtet – mit einer ‚schonungslosen Distanz’, wie
ich das nennen will. Ich bin auch mal auf der Rückfahrt von Polen über
Ravensbrück gefahren. Ich glaube, ich war ganz froh, dass es an dem Tag
geschlossen hatte. Denn aus den Erzählungen von Martha – und ich bin ja so
froh, dass ich fünf abendliche Gespräche auf Casette aufgenommen habe – wäre
mir das als ein Nachgeborener des Tätervolkes mehr als unerträglich gewesen und
wäre dann immer noch nur ein leichter Schatten, wenn überhaupt, von dem gewesen,
was sie und ihre „Mädchen“ erleben mussten. Und es gibt so skurrile Dinger
dann. Die Freundin von Franz Kafka, Milena, war auch in Ravensbrück und Martha
hat sie kennen gelernt. Und als Kafka-Fan ist es dann eigenartig jemanden zu
kennen, die Milena kannte. Man ist quasi im ersten Moment stolz darauf – und im
zweiten schämt man sich dafür wieder, denn mit was war diese Begegnung
eigentlich erkauft worden? Über Martha könnte ich zwar keinen Roman schreiben,
aber Seiten von Erinnerungen. Wie wir zusammen saßen im Wohnzimmer, die
Haushaltshilfe das warme Gebäck brachte, sie den Cointreau köpfte – nach dem
ersten Besuch war ich so klug, immer eine zweite Falsche dabei zu haben, die
ich ihr beim Abschied dann gab – und mich schief anschaute und meinte: „Ich hab
seit 40 Jahren nicht mehr geraucht – aber kannst Du mir gerade mal eine drehen?“ Oder wie wir bei
ihrem ältesten Sohn war und sie uns alle unter den Tisch getrunken hat? Oder
als wir im Gespräch eine Nacht durchmachten, ich total fertig war und sie mal
noch so nebenbei ihren behinderten Mann pflegte, den Haushalt schmiss … . Es
sind heute zwei Zeilen, die eine Flut von Erinnerungen auslösen. Und da passt
der Satz von Marcel Proust mal wieder wie die Faust aufs Auge: „Der Leser ist
der Leser seiner selbst.“
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