Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 4. Februar 2012

4. Februar 1968


Cresspahl erhält am 15. Oktober 1938 die Todesanzeige von Anna Niederdahl aus Bad Schwartau. Meines Wissens, hatten wir die noch nicht. Er fährt am Dienstag hin, eine kleine Beerdigung. Der Leichenschmaus findet bei Erwin Plath statt (den hatten wir schon mal, den kennt Cresspahl aus seiner Militärzeit). Wie es scheint, ist das weniger eine Trauerfreier sondern ein konspirativer Treff, „es ging um die Unterstützung des sozialdemokratischen Emigrationsvorstandes, der im Frühsommer von Prag nach Paris umgezogen war“. Cresspahl ist aber kein „Genosse“ mehr, da er sein Mitgliedsbuch zurückgegeben hat. Wenn ich mich recht erinnere ist Plath in der SPD. Man fragt ihn, ob er jemand unterbringen könnte, was aber nicht geht, er erklärt sich aber bereit, nach Dänemark zu fahren.

Freitag, 3. Februar 2012

3. Februar 1968


„Wie sah Cresspahl aus im September 1938“ fragt Marie und Gesine antwortet: 50 Jahre alt, 1,90 groß, aufrechte Haltung, länglicher, noch voller Kopf, steingraue Haare, gerkäuselt, hellblaue bis grau bis grüne Augen, genickte Falten zu beiden Mundwinkeln. Darauf Marie: „Gesine, ich meine: Wie er aussah!“ Das war es heute, nicht einmal etwas aus der guten, alten NYT.

Donnerstag, 2. Februar 2012

2. Februar 1968

Ist heute Lichtmeß? Und kam deshalb die SZ heute nicht? Jedenfalls 1968 ist Lichtmeß und scheinbar ein freier Tag, Gesine und Marie sind – mal wieder – im Schwimmbad. Ein Dialog über die Frage, ob Erzähltes wahr ist. Ob Erinnerungen wahr sind, oder ob sie letztendlich nicht irgendwann die Summe von Vielem ist, nur nicht von dem, was wirklich war. „Nie habe ich die Wahrheit versprochen. – Gewiß nicht. Nur deine Wahrheit. – Wie ich sie mir denke.“ Die Wahrheit, so unke ich jetzt mal fröhlich vor mich hin, liegt immer Auge des Erzählers und im Auge des Zuhörers. Oder mit Marcel Proust zu sprechen – ohne den komme ich ja dann doch wohl nie aus: „Der Leser ist der Leser seiner selbst.“ Und noch zwei kleine Anmerkungen: Zu Beginn des heutigen Eintrags wird von einem „Walmurmeltier oder Erdferkel“ gesprochen, welche in „Punxsutawney oder Quarrysville“ herkauskommt. Wenn es seinen Schatten sieht, dauert der Winter noch sechs Wochen. (Also hier hätte man den Schatten sehr, sehr deutlich gesehen.) Ist das nicht die Vorlage von „Täglich grüßt das Murmeltier“? Und dann noch zitieren die beiden die Bilder der Erschießung eines Gefangenen durch den Prigadegerneral Nguyen Ngoc Loan in Südvietnam. Bilder, die vermutliche jeder auch heute noch kennt.

Mittwoch, 1. Februar 2012

1. Februar 1968

Als hätte Johnson – schon wieder – gewusst, dass ich heute kaum Zeit habe. Einseitiger Bericht, wohl aus der NYT, über ein Vergewaltigungsopfer. Hätte auch heute in der SZ stehen können.

Dienstag, 31. Januar 2012

31. Januar 1968

Wieder so ein kleines Meisterstück von Johnson. Portrait von Friedrich Jansen, der ab 1938 für fünf Jahre Bürgermeister von Jerchiow gewesen ist. Ei-gentlich könnte ich es sehr sehr kurz machen, in dem ich zitiere: „Bei diesem [Jansen] dachte Cresspahl nicht einmal darüber nach, warum der ihm zuwider war.“ Jansen ist so ein Aufsteiger, einer, der 1933 mit Knapper Not dem Hunger entkommen ist, sich dann der Partei anschloss und – wie nun auch immer – Karriere machte. Duckmäuserei? Anschleimerei? (Warum muss ich gerade an die FDP denken?) Jetzt ist er eben Bürgermeister und hat von Tuten und Blasen keine Ahnung. Nur die Mitarbeiter im Rathaus halten den Laden aufrecht, „noch lief es“. Er hat Geltungsdrang – und Pech. Weder bekommt er das Haus von Semig noch dessen Hund, den Cresspahl erst in Obhut hat, bevor er ihn dann doch weggeben muss. Er logiert nun in einer Villa, und weiß nicht, welchen Klotz er sich ans Bein gebunden hat. Johnson zeichnet, mit Verlaub, ein eitles Arschloch – ah, vielleicht daher die Assozia-tion zur FDP? – und gibt ihm auch so einen Körper. Macht man gerne in der Literatur, Inhalt und Form quasi gleich zu setzen. Schon mal aufgefallen, dass wenn die Liebe blüht immer die Sonne in der Literatur scheint und wenn sich das Paar trennt es stürmt und schneit oder zumindest regnet und dunkel ist? Ich werde gleich die Beschreibung zitieren, frage mich aber, ob es sich Johnson da nicht zu einfach macht, ein hässlicher Charakter in einem hässlichen Körper. Sind die ‚Verführer’ – und das meine ich jetzt nicht nur in sexueller Hinsicht – nicht of die schöneren, eleganteren, wohlgefälligeren? (Womit meine Assoziationen von der FDP zur CSU wandern – ich sage nur mal Carl Theodor.) Oder anders gesagt: Ein Arschloch kann auch richtig Klasse aus-sehen. Mir gefällt die Beschreibung von Johnson ungemein, keine Frage – aber ich finde es in diesem Zusammenhang dann doch etwas einfach. Hier ist sie: „Er [Cresspahl] hätte den [Jansen] als Schwein beschrieben. Nicht im deutschen Sinn des Wortes, schlicht wegen seiner Ähnlichkeit. Da war Jansens rosige Länge, obendrein weißlich behaart, die schweren Schenkel, nicht wuchtig sondern wabbelig, die massigen Arme, ansehnlich auf den ersten blick, weichmusklig auf den zweiten, und am ganzen Leibe das zarte ängstliche Fett, angesammelt in sechsunddreißig Jahren ohne handfeste Arbeit.“ Das „zart ängstliche Fett“ – wie geil ist das denn!

Montag, 30. Januar 2012

30. Januar 1968

Dimitir Weiszand (siehe 2. Oktober 1967) tritt mal wieder auf die Bühne, trifft Gesine zufällig, sie gehen einen Kaffee trinken. Er erkundigt sich nach Einzelheiten ihrer Arbeit, Gesine gibt aber nur unwillig Antwort. „Noch immer nicht ist ihm Zudringlichkeit nachzuweisen“, aber es scheint ein angespann-tes Gespräch zu sein.

Sonntag, 29. Januar 2012

29. Januar 1968

Was wäre wenn? Beliebte Frage. Man muss sich an nichts halten und kann frei phantasieren. Also, was wäre gewesen, wenn Mr. Smith – der ehemalige Geselle von Cresspahl in Richmond – ihn in diesem Deutschland besuchen käme? Hätte er gesehen, „daß das Land in der Hand von Verbrechern war?“ Eher nicht, schätze ich mal. Und auch die Vorstellungen, die sich Cresspahl macht, führen nicht zu einem Entsetzen oder Aufregen oder wie man das auch immer nennen will. Smith, das ist das einzig deutliche, hätte sich ob des Hitlergrußes etwas verwundert, da er es albern findet. Aber sonst. Der Wirt-schaft geht es gut, den Judenhass sieht man nicht sofort auf den ersten Blick. Der Fremde, der vielleicht gar nichts übersieht, kann es zumindest nicht ‚richtig’ interpretieren, auch fehlen ihm die Zusammenhänge. Der Blick von außen – er öffnet diesmal keine neuen Ein- und Ausblicke.