Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 31. Dezember 2011

31. Dezember 1967

Es gibt ein Festessen im Hause Gesine Cresspahl. Schmorbraten. D.E. ist da und wird integriert, als das was er ist – nicht zur Familie gehörend. Er würde Gesine wohl gerne heiraten, aber sie – warum auch immer – nicht. Alle drei verstehen sich gut, doch D.E. weiß um seine Stellung, auch wenn er gerne mehr für die beiden machen würde. Aber er findet sich damit ab.

Freitag, 30. Dezember 2011

30. Dezember 1967


Cressphal, der „Engländer“ in Jerichow ist nach wie vor etwas ein Außenseiter. Nicht nur, weil er mit dem Juden Semig Verkehr hat, sondern, weil er sich aus vielem raus hält. Die Papenbrocks sind in der Stadt nicht wirklich angesehen, auch wenn sie so tun. Horst, der Sohn, zurück aus Rio de Janeiro „brüllt mit seinen Gesonnen die Chausseebäume“ nicht mehr an, „weil er einem Ausländer namens Adolf Hitler etwas geschworen hatte“. Auch er hält sich nun zurück. Dagegen nicht der verschollene Bruder – von dem man immer noch verdammt wenig weiß – der in Landeshauptstadt wohnt und das Gerücht umgeht, er wäre bei der Geheimpolizei.

Donnerstag, 29. Dezember 2011

29. Dezember 1967


Zu bezahlen war heute im Gemüsegeschäft 3,54 $, im Feinkostgeschäft 8,41 $ und beim Schlachter 8,24 $. Macht zusammen 20,19 $. Auf die Spekulation, was man mit den Einkäufen hätte machen können, verzichte ich aus Zeitnot.

Mittwoch, 28. Dezember 2011

28. Dezember 1967


Johnson bleibt heute etwas kryptisch, will mit der Sprache nicht so wirklich raus, ergeht sich in Andeutungen. Wenn ich das richtig verstanden habe, spricht man in Jerichow über die Ehe von Cresspahl mit Lisbeth. Da ergeht sich Johnson aber in Andeutungen, die sich mir nicht erschließen wollen. Scheinbar ist Lisbeth auch Stimmungsschwankungen unterworfen und hat sich nach wie vor der Kirche verschrieben. Das stößt bei Cresspahl nicht unbedingt auf Gegenliebe. Denn, wie gesagt, wenn ich es richtig interpretiere, verweigert sich Lisbeth dem ehelichen Akt, da es, wie es wohl bei Paulus heißt, dem Menschen gut tut, „daß er kein Weib berühre“. Aber immerhin löst sich heute der Besuch vom 27. November 1967 bei Elizabeth Trowbridge auf – mit der hatte Cresspahl jedenfalls ein Verhältnis was einen Sohn zur Folge hat. Er hat es Lisbeth gestanden, die sich darüber nicht aufregt sondern sagt: „Heinrich, dass sie doch hier lebte; nicht zu dicht an Jerichow, nicht zu weit. Könntest du mit ihr leben, und doch mit mir.“ Schon etwas eigenartig.

Dienstag, 27. Dezember 2011

27. Dezember 1967


Schwierig heute, vielleicht auch einfach nur uninteressant oder vielleicht auch noch nicht mit Bedeutung geladen. Ein Tag ‚zwischen den Jahren’. Marie hat schulfrei – „kinderglut“ heißt das dort – Gesine geht arbeiten, hat das ein oder andere zu tun. Die NYT hat den Erfinder des Napalms ausfindig gemacht, der sich für dessen „moralischen Aspekte“ der Verwendung als nicht zuständig erklärt. Nach meinem Eindruck halt so ein Tag, der an sich genommen ohne Besonderheiten ist, der aber genau das abbildet, was wohl 90 Prozent eines jeden Lebens ausmacht: Alltag.

Montag, 26. Dezember 2011

26. Dezember 1967

Lang der Eintrag bei Johnson, kurz bei mir. Lobegesang auf die gute alte New York Times - zwar nicht ganz unkritisch, aber wohlwollend.

Sonntag, 25. Dezember 2011

25. Dezember 1967

Johnons packt, pünktlich zu Weihnachten, eine kleine Überraschung aus. Gestern hieß es u.a.: "Zu Weihnachten 1936 war meine Mutter noch nicht tot. Noch Weihnachten 1937 war Lisbeht Cresspahl am Leben." Ich hätte es ja wissen können. Am ersten Weihnachstsfeiertag 1936 kommt Lisbeth ins Krankenhaus - Fehlgeburt. Das ist tragisch, aber Johnson spielt ein anderes, weiteres Thema an: die Schuld. "Meine Mutter hatte gehofft, mit dem zweiten Kind auch das eigene Leben zu verlieren, um zu entkommen aus der Schuld." Heftig, denn das ist nichts anderes als eine Art Suizid. Und warum? Johnson nennt viele Gründe, die alle für sich genommen nicht wirklich groß sind. Ihr Schuld mit Cresspahl nach England zu gehen "im heimlichen Wissen, daß sie mit ihm wohl leben wollte, jedoch nicht in der Fremde." Sie hat versucht, damit umzugehen doch "ihre Schuld hatte dann viel Verwandschaft bekommen". Alles läuft eben darauf hinaus, wenn man einmal in die falsche Richtung geht und keinen Mut hat, umzukehren, sondern nur vermeintliche Korrekturen vornimmt, dann bleibt man in der falschen Richtung. Spontan fällt mir Thomas Bernhard, ich glaube, es steht im "Keller" ein, der in diesem autobiographischen Roman seine Suche nach einer Lehrstelle schildert und im Arbeitsamt die allerersten Adressen genannt bekommt. Er will aber in die "entgegengesetzten Richtung", was niemand versteht. Ist eigenltich echt klasse gemacht, an Lisbeth eine Nation vorzuführen, die in die falsche Richtung ging, sich hat in diese treiben lassen (wie man das nun auch immer nennen will, ich erlaube mir nach wie vor kein Urteil darüber) und merkt, das was nicht stimmt. Und diese Nation wird in Form von Dr. Berling nochmals aufgeführt, der Lisbeth untersucht und sie ins Krankenhaus einweist. Der habe sich, so heißt es im Text, verändert und dann, quasi als Zusammenfassung: "Der trank nicht mehr, woh ihn einer abhören konnte." Einer also, der merkt, dass es die falsche Richtung ist, der aber nichts dagegen tut bzw. tun kann und Korrekturen vornimmt. Gestern erzählte mir meine Mutter ein ganz klein wenig, wie sie diese Zeit (als Kind) erlebt hat. Ja, sagte sie, man merkte schon, dass ein Jude nach dem anderen aus der Straße verschwand. Aber für sie als Kind, was hätte sie interpretieren können? Und ihr Vater, mein Opa (den ich nie kennen gelernt habe und der blind war) meinte unter vorgehaltener Hand: "Wir müssen den Krieg verlieren - denn ansonsten werde ich als 'unwertes Leben' um die Ecke gebracht."

Samstag, 24. Dezember 2011

24. Dezember 1967

Die Papenbrock'sche 'Weihnachtsgeschichte' wird erzählt, wie der ganz alte Papenbrock, Albert, 1922 nach Jerichow kommt, um Ersatz zu suchen für die "Gutspacht, die er in Vietsen an der Müritz aufgegeben hatte". Er wird fündig, richtet sich ein. Die Töchter werden auf Schulen nach Lübeck geschickt, dann heiraten sie, wir wissen das ja. Ein 'friedlicher' Text, ein Rückblick.

Freitag, 23. Dezember 2011

23. Dezember 1967

Brief an einen Herrn Dr. Kliefoth aus Jerichow. Keine Ahnung wer das ist. Aber Gesine beschreibt recht ausführlich ihre Tochter, Aussehen, Sprache. Dann Impressionen aus dem weihnachtlichen New York – der übliche Weihnachtskonsum-Terror halt, so wie wir ihn halt auch immer erleben müssen. 

Donnerstag, 22. Dezember 2011

22. Dezember 1967


Marie ist heute etwas schnippisch und beschimpft ihre Mutter, die Lügen nicht ausstehen kann, macht aber klar, dass man ohne Lügen gar nicht durch das Leben kommt, „wenn wir nicht lögen wie drei amerikanische Präsidenten hintereinander“. Wulff lässt zwar nicht grüßen, aber entbietet wohl schon mal seine Hochachtung. Ansonsten Stimmungsbericht aus Jerichow, wo ein Flugplatz gebaut wird, den man, weil geheim und Sperrgebiet, alle nur „Mariengabe“ nennen, „nach dem Dorf, das dabei draufgegangen war“. Und wenn sich einer mal wieder nicht dran hält, dann ist es natürlich Cresspahl. Doch die Beschwerde von Bürgermeister Jansen nach ganz weit oben wird diesen kurzerhand um die Ohren geschlagen. Dennoch, da viel am Flughafenbau verdienen, ist der „Österreicher“ derzeit kein wirkliches Thema. (In eigener Sache. Ab morgen, spätestens ab übermorgen wird es mit dem Hochladen der Texte schwierig wenn nicht gar unmöglich. Ich hole es nach und versichere, dennoch jeweils am jeweiligen Tag gelesen zu haben.)

Mittwoch, 21. Dezember 2011

21. Dezember 1967


Der Krieg in Vietnam ist heute Thema. Der ist es ja im Grunde schon die ganze Zeit, denn ein Großteil der Nachrichten, die Johnson aus der NYT wiedergibt handelt davon. Heute sind es Überlegungen von Gesine, dass Marie sich das ja alles gar nicht vorstellen kann, da sie es nur aus Erzählungen, nicht aus eigenem Erleben und anscheinend auch nicht aus Bildern kennt. Es ist für die Kleine etwas Abstraktes, schwer zu vermittelndes. Aber selbst wenn man Bilder sieht, wie wir, übermäßig im Fernsehen, ich bin mir nicht sicher, ob wir wissen, was Krieg ist. Vielleicht haben wir eine kleine Ahnung, aber wohl dann doch nicht eine ausreichende Vorstellungskraft. Und dann ist heute Johnson ‚prophetisch aktuell’, denn Marie konstatiert: „Ein Präsident kann nicht lügen: sagt Marie. Es käme doch heraus!“

Dienstag, 20. Dezember 2011

20. Dezember 1967


Gesine und Marie sind Schwimmen. Wollte ich heute eigentlich auch tun, na ja, Schwamm drüber. Allgemeine Betrachtungen über das Hotelbad, über zwei deutsche Gäste, denen Gesine imponiert, Erinnerung ans Schwimmen in Jerichow.

Montag, 19. Dezember 2011

19. Dezember 1967


Der erste Satz lautet: „Oh, was kann die New York Times schimpfen!“ Das Gleiche kann ich, ohne die Überraschung in der Stimme, auch über meinen Chef sagen. Ne gute Stunde am Stück musste eine Kollegin und ich uns etwas anhören – und es wollte einfach nicht enden. Na, immerhin mal einen direkten Bezug zu den „Jahrestagen“. Ansonsten Beschreibung der vorweihnachtlichen Stimmung, alle sind gut drauf, alle meinen es ehrlich. Das kenne ich manchmal auch – dieses Jahr ist es allerdings noch nicht eingetreten. Aber ich erinnere mich gut an diese Tage, wenn alle und jeder mit mehr Freundlichkeit, Rücksicht auftritt, alles eher locker nimmt, nicht so verkrampft ist. Und nur deswegen, weil Weihnachten ist? Die letzten Zuckungen und Auswirkungen eines christlichen Festes, das an Bedeutung massiv verloren hat? Oder liegt es an den kollektiven freien Tagen? Oder an dem Bewusstsein, spätestens am 1. Weihnachtsfeiertag gibt es in der Familie wieder Zoff, weil man es nicht gewohnt ist, so lange auf einem Haufen zu sitzen? Ich habe mir jedenfalls vorgenommen weder ‚besinnliche’ oder ‚frohe’ Weihnachten zu wünschen, sondern nur ‚gesegnete’. Sollen die Leute doch gucken und sich überlegen, ob ich soo christlich bin, aber meiner Meinung nach sollten Feiertage, ob kirchlich oder weltlich, für das genutzt werden, weswegen man frei hat. In dem Fall heißt das an Weihnachten drei mal Kirche – aber wer macht das schon? Also komplett abschaffen. Ich hasse es einfach, wenn-man-so-tut-als-ob oder auf dem Rücken von den wenigen echten Kirchgängern in diesem Fall, drei Tage faul in der Gegend rumhängt und nichts Gescheites anstellt. Dass jetzt der Einzelhandel aufschreien würde, wenn er das hier lesen würde, weiß ich – aber diese jährliche Vermeldung, man hätte im Weihnachtsgeschäft noch mehr Umsatz gemacht als im letzten Jahr ist doch nichts anders als eine Teufelsspirale. Zurück zu Johnson. Der Satz muss jetzt noch sein: „Der Mann gibt sich säuerlich, oder seine bleiche Gesichtsfarbe macht ihn dazu, weil sie schon am frühen Nachmittag von schwärzlichen Bartwuchs verpetzt wird.“ Oh, könne ich nur einmal so einen Satz schreiben! Es ist übrigens der Käsehändler, der nach zwei Jahren Bekanntschaft zum ersten Mal das Wort an Gesine richtet. Ob das ihr Kind sein, ob sie verheirat sei? Gesine: „Die Antwort ist positiv“, der „So. Nun ja. Das wäre das.“ Nun noch ein Satz in eigener Sache: Der erste von vier Bänden ist hiermit gelesen!

Sonntag, 18. Dezember 2011

18. Dezember 1967


Heute geht es quasi einmal quer durch Jerichow. Auflistung der Bürger und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus. Ergebnis: Alle haben sich, irgendwie, meistens besser als schlechter, damit zurecht gefunden. Cresspahl hat jetzt ein Telefon und den Aufnahmeantrag in die Partei nicht unterschrieben und nicht zurückgebracht.

Samstag, 17. Dezember 2011

17. Dezember 1967


Zurück nach 1935. Zwei Dinge packt Cresspahl an. Erstens macht er sich einen Garten und  zweitens zieht er zusammen mit der Innung einen großen Auftrag für die Reichswehr ans Land. Jetzt hat er genug zu tun, muss Leute einstellen, kann Maschinen kaufen. Er hat viel zu tun, dass Lisbeth die Formulare beim Heeresbauamt holen muss. Will sie aber nicht. „Aber ich werd doch mitschuldig, Heinrich! – Woran wirst du mitschuldig. – Am Krieg! Die Kasernen sind doch für den Krieg.“ Aber nach England will sie auch nicht.

Freitag, 16. Dezember 2011

15. Dezember 1967


Ein wirklich schöner Text! Gesine und Marie werden in einer Limousine abgeholt, um beim Vizepräsident der Bank, bei der Gesine angestellt ist, zu Abend zu essen. Für Marie ein himmlisches Vergnügen in dem schicken Auto, in der schicken Villa, mit dem Diener, dem schicken Essen. Sie genießt es in vollen Zügen, freut sich über das Glas Wein, welches der Diener – zugleich auch der Chauffeur – ihr einschenkt. Sie genießt auch das Gespräch zwischen De Rosny und ihrer Mutter. Dummes Gör, denn sie kapiert nicht (OK, kann nicht kapieren), dass es hier nicht um ein Abendessen, sondern um eine Art Bewerbungsgespräch geht. De Rosny prüft jedenfalls Gesine nicht schlecht – und sie besteht. Das alles aus der Sicht von Gesine geschrieben, die sich in die Sichtweise von Marie einfühlt. Am Ende gibt es noch italienische Weihnachtsschnitzereien  „im Werte von sagen wir tausend Dollar“ und einen Ferienaufenthalt in Prag, damit das Tschechisch einfacher zu lernen ist. Grandios ist die Stelle, als die „Vernehmung“, wie Gesine das Gespräch bezeichnet, vorbei ist und Marie dem Vizepräsident der Bank eine Frage stellt: „Trifft es zu, daß die Kreditinstitute aus dem Krieg in Viet Nam Gewinne ziehen?“ und dann folgt ein klein wenig später ein wirklich schöner Satz: „Das Geld selbst spricht mit ihr, und das Geld sieht sie an aus festen und besorgten Blauaugen, während es ihr ins Gesicht spricht.“ OK, was dann kommt ist das übliche Geseiere – aber dann doch mit etwas mehr Substanz als dem von Westerwelle und seinen Kollegen.

Donnerstag, 15. Dezember 2011

15. Dezember 1967


Interessante Frage von Marie: „Ich werde jetzt mal nachsehen, woher du deine Vergangenheit hast.“ Es wird dann doch nicht so tiefsinnig, wie diese Aussage impliziert. Es entwickelt sich nämlich ein Spiel, in dem Marie überprüft, ob Gesine wirklich von ihrer Kindheit spricht, oder nicht Maries Kindheit als ihre ausgibt. Tut sie jedenfalls nicht. Und so erfahren wir, dass Gesine eher ein Papa-Kind war und es will auch den Anschein haben, dass Cresspahl für sie ein gutes Händchen hatte, im Gegensatz zu Lisbeth. Aber das ist ja oft so, dass die Töchter besser mit den Vätern und die Söhne besser mit den Müttern können. Und wir wissen nun, das beide im Alter von drei Jahren Zeitung gelesen haben – zumindest taten sie so. Aber die Frage, woher man seine Vergangenheit hat, ist schon spannend. Im ersten Moment ist das eine doofe Frage, man hat sie halt, will man antworten, aber vergleicht man ein Ereignis von, sagen wir mal, zehn Jahren mit anderen ab, die auch dabei waren, so erzählt jeder eine andere Geschichte, hat eine andere Vergangenheit. Man bastelt sich das schon arg zurecht, hat seine blinden Flecken, übertreibt, untertreibt, überhöht und verschönert. Das was war ist das, was man meint und nicht das, was war.

Mittwoch, 14. Dezember 2011

14. Dezember 1967


Ja, ja, ich weiß, ich bin heute extrem spät dran. Aber das ist heute so ein Tag, der ggf. eine Wendung „mit mir und meinem Schicksale“ herbeiführen könnte – oder eben auch nicht. Aber immerhin kann ich mir nicht vorwerfen, das Meinige nicht getan zu haben. Erinnert man sich an den 18. Oktober, als es um Fluchthilfe ging? Heute gibt es einen Brief an Anita, dass die Pässe wieder wohlbehalten zurückgekommen sind. Alles ist gut gelaufen. Wieder ein „Zionist“ weniger in der DDR. Aber Anita hat die Wohnung verloren. Deswegen? Ich könnte ja jetzt versuchen eine Verbindung zu schlagen, wenn das mit der Flucht – zumindest heute dokumentiert – geklappt hat, dann wird das mit mir auch klappen? *lach* Das ist Kaffeesatzleserei (wobei ich nicht verhele, mich würd’s freuen). Klipp und klar: Ich hab heute keinen Kopf für Gesine, für Anita, für Marie, für Johnson und all die anderen.  Und Weihnachten ist für mich noch eh so weit entfernt, dass mich Gesines Ausführungen auch gerade eher befremden.

Dienstag, 13. Dezember 2011

13. Dezember 1967


Cresspahl versucht sich zu recht zu finden, einzuleben. Er braucht auch Aufträge und stellt sich deswegen dem Innungsmeister Böttcher in Gneez vor. Der beäugt aber Cresspahl etwas argwöhnisch, war der doch in England gewesen und was man von so einem halten könne. Böttchers Sohn ist Jung-Nazi und aus irgendwelchen Gründen vertraut er sich Cresspahl an. Denn Klaus, so heißt der Sohn, will mit seinen Leuten eine Hütte abbauen, die die christliche Jugend gebaut hat. Und in der ist Heine Klaproth, der Lehrjunge von Cresspahl. Die Jungs bauen nachts wirklich die Hütte ab, Cresspahl beobachtet es – und hält den Mund. Das verschafft ihn dann Respekt, plötzlich wird er auf den Stammtisch der Tischlerinnung eingeladen. „Cresspahl hatte sich anfangs nur in guter Haltung in ein Leben in Deutschland schicken wollen. Nun hatte sich herausgestellt, daß es so schlimm nicht war.“ Echt nicht doof gemacht, verschiedene Wege der ‚Nazifizierung’ aufzuzeigen, der einfach überzeugte Nazi, weil er jetzt endlich mal was gilt, die Jungs, die quasi schon damit aufgewachsen sind und die durch die Jugendorganisationen fast kaum anders können, und die, die sich wehren oder zumindest Abstand halten wollen und dann doch hineingezogen werden. Ich bin gespannt.

Montag, 12. Dezember 2011

12. Dezember 1967


Weihnachten naht! So will es die NYT einem nahe bringen. Geht mir aber vollkommen ab. Francine, die ungeliebte ‚Freundin’, ist bei Marie zu Besuch und löchert sie, weil sie so eine Umgebung nicht kennt („Sind das alle deine Bücher? …). Als Gesine kommt, wird das Gespräch leiser und sie kann nichts mehr festhalten. Das Zimmer von Marie ist gesperrtes Gebiet, denn die Tochter arbeitet an einem Wunsch, von dem Gesine nicht weiß, dass sie ihn hat. Und Francine erledigt Begrüßung und Abschied in einem Aufwasch und ist dann auch schon wieder aus der Tür. „Sie hat getan, als hätte sie Angst vor mir Marie“ spricht Gesine ihre Tochter an. „Na klar hat sie Angst vor dir. Manchmal stellst du Fragen, Gesine … Fragen von einer Art, Gesine …!“ und ‚präzisiert’: „So meint es nicht Francine, sondern ich. Und wenn ich es meine, so meine ich es anders. Du wirst mich schon verstehen.“ Yeah, damit ist sie natürlich so vollkommen aus dem Schneider.

Sonntag, 11. Dezember 2011

11. Dezember 1967


Maries erste Freundschaften in New York ist das heutige Thema. Im Kindergarten hatte ihr es gleich Pamela Blumenroth angetan, aber da sehr stark auf „togetherness, Zusammenbefindlichkeit“ wert gelegt wird, muss sie sich mit „Mark dem Küsser“ abgeben, was sie aber nicht davon abhält sich heimlich mit Pamela zu treffen. Später gerät sie auch noch an Edmondo, einen Schwarzen, der gerne mal schlägt und ausrastet, doch Marie hat – wen wunderts bei diesem Mädchen – eine beruhigende Wirkung auf ihn. Bei einem Besuch lernt sich so auch das Ghetto der Schwarzen kennen und die ‚unkonventionelle’ Familienkonstellation. Edmondo besucht auch mal sie, aber auch nur einmal, denn danach sieht das Zimmer wie ein Schlachtfeld aus.

Samstag, 10. Dezember 2011

10. Dezember 1967


Eine dieser ‚menschlichen’ Geschichten. August Methfessel, der Schlachter von Jerichow, besucht 1934 den abgesetzten Veterinär Semig, um sich über dessen Nachfolger Hausschildt zu beschweren. Der würde die notwendige Fleischbeschau auch gerne mal übers Telefon machen und nicht einmal die notwendigen Proben nehmen. Seming schreibt einen Brief darüber an das entsprechende Amt, Methfessel wird nochmals vorgeladen zur Klärung der Sachlage – und Hausschildt kommt nun zur Fleischbeschau und benutzt jetzt recht gerne den quadratischen Stempel für bedingte Tauglichkeit des Fleisches oder gar den dreieckigen für Untauglichkeit. „Also wurde eine Zeit lang wenig Fleisch von Rind und Schwein gegessen in Jerichow … [und] viele Hühner [kamen] früher ums Leben, als ihnen zugedacht war, und Kaninchen auch.“ Lisbeth ist übrigens jetzt Vegetarierin.

Freitag, 9. Dezember 2011

9. Dezember 1967

Lisbeth, die in England ja etwas Probleme mit der Kirche hatte, ist nun wieder voll dabei. Zudem hat sie sich mit der Frau von Pastor Brüshaver, Aggie Brüshaver, angefreundet. Aggie, ehemalige Diakonissin, ist wohl nicht die geborene Hausfrau und so greift Lisbeth ihr unter die Arme, zeigt ihr Kochen etc. pp. Als ‚Gegenleistung’ erfährt sie über Aggie, welche Probleme die Landeskirche mit dem „Österreicher“ hat und bekommt auch mit, dass Brüshaver „schwer“ verwarnt worden ist, da er noch immer nicht aus dem Pfarrernotbund ausgetreten ist, ein von Martin Niemöller ins Leben gerufene Bruderschaft, die der NS-Herrschaft Widerstand leistete. Cressphal ist es zufrieden, dass die beiden Frauen über Küche und Kinder sprechen.

Donnerstag, 8. Dezember 2011

8. Dezember 1967


Tonbandbrief von Gesine an Marie, wohl auf für „wenn ich tot bin“. Es sind alltägliche Betrachtungen von der Straße, aus dem Fahrstuhl. Kleine Hinterfragungen von Alltäglichem, wie man es manchmal macht, wenn man besonders wach, aufmerksam durch den Tag läuft.

Mittwoch, 7. Dezember 2011

7. Dezember 1967


Kurzer Eintrag. Ein Traum. Beliebig interpretierbar.

Dienstag, 6. Dezember 2011

6. Dezember 1967


Welche Wünsche hat Cresspahl für 1934? Das ist die heutige Frage – und die Antwortliste ist lang. Das Lisbeth nicht so rumzickt, von mir jetzt vereinfacht zusammengefasst, ist das erste; dass er von seinem Verdienst leben wird können und nicht, wie bis jetzt, von dem Ersparten; dass sein Schwager mit der Zigelei keinen Unsinn macht; dass er nicht recht hätte mit dem Krieg, den er fürchtet; dass es noch drei Kinder mehr werden, wie mit Lisbeth verabredet und: „Sicherheit für die Familie vor wirtschaftlicher Not, vor politischer Gefahr, vor Feuer und Blitzschlag“. Und was macht Cresspahl, was macht er? Er lässt sich doch tatsächlich einen Aufnahmeantrag für die Nazipartei geben!

Montag, 5. Dezember 2011

5. Dezember 1967


Cressphal richtet das Haus her, was seine Tochter von seinem Schwiegervater bekommen hat. Und in Jerichow zerreißen sie sich die Mäuler, weil sie nix wissen, aber meinen alles zu wissen. Also ist Cresspahl jetzt ein englischer Spion, oder nur einer, der englisches Radio hört. Wahlweise ist auch die Ehe am Ende, andererseits hat er für seine Frau angeblich einen sündhaftteuren Kühlschrank gekauft. Aber als Lisbeth in das Haus einzieht, verstummen die Gerüchte nicht, nur werden sie jetzt mit umgekehrten Vorzeichen kund getan. Hauptsache es ist geschwätzt.

Sonntag, 4. Dezember 2011

4. Dezember 1967


„Gestern habe ich das Sterben versucht“ so Gesine, die heute eindeutig spricht /  schreibt. Und was dann folgt, dass werfe ich ja jedem Schriftsteller als Schwäche vor, da kann der Name noch so berühmt sein oder nicht: ein Traum! Gesine träumt ihren eigene Tod, wobei sie jedoch handelnde Person bleibt und bei den Beerdigungsvorbereitungen hilft – Papiere ordnen, Sarg tragen etc. pp. Solche literarischen Stellen können mir komplett und ohne jeden Ersatz komplett gestohlen bleiben. Hier ist es vielleicht nicht so schlimm, aber Träume in literarischen Texten sind in meinen Augen ein Armutszeugnis, der Autor macht es sich damit nämlich total einfach, entweder eine neue Wendung aus dem nichts hervorzubringen oder die Person besser zu charakterisieren, was er sonst aus Schwäche nicht hinbekommt. Wer in der Literatur zum Traum greift, der beweist für mich nicht Phantasie, sondern gerade das Gegenteil, Phantasielosigkeit, wer zum Traum greift, der belegt, dass er nicht mehr weiter weiß. Der Traum in der Literatur ist die letzte Stufe vor dem Scheitern.

Samstag, 3. Dezember 2011

3. Dezember 1967


Heute macht es sich Johnson ‚einfach’, er zitiert nur aus der NYT: Tod von Kardinal Francis J. Spellmann (knapp zwei Seiten), Verleger kämpfen um die Rechte an den Tagebüchern Che Guevaras (knappe halbe Seite), fatalistische Haltung des Hanoi-Regiems zum Krieg (knappe halbe Seite), letzte Fahrt des Zugs ‚Zwanzigstes Jahrhunder’ (knappe halbe Seite).

Freitag, 2. Dezember 2011

2. Dezember 1967

Winter 1933 ist kein günstiger Zeitpunkt für Einrichtung des Hauses in Jerichow. Mauern ist schwierig und so lebt Cresspahl wieder unter dem Dach von Papenbrock. Lisbeth und er erachten dieTrennung als gut, das Schlechte konnte vergessen werden, obwohl Lisbeth fürchterlich erschrak, als Cresspahl nachts ankam. Und ihm war es, als wollte sie nicht gleich mit ihm allein sein, als würde sie sich vor ihm fürchten. Papenbrock steckt in die Stadtplanung "mehr als einen Finger" rein und kommt mit den neuen Verordnungen der Nazis nicht wirklich zu recht. Aber so kommt er geschickt zu einer Gasleitung, um es seiner Tochter angenehm zu gestalten. Cresspahl fällt es nicht leicht, in Jerichow "schnell anzuwachsen". Es war nicht die Fremde, sondern ihm fehlt etwas, aber er kann es nicht wirklich benennen. Und einen Plan B hat er auch, denkte, dachte er: Notfalls will er mit Lisbeth und Gesine ins Ausland.

Donnerstag, 1. Dezember 2011

1. Dezember 1967


Impressionen nach dem gestrigen Schneesturm. Kasch schickt einen Blankoscheck für eine neue Telefonnummer nach dieser eigenartigen 'Entführungsnummer'. Die neue Nummer kostet aber nix. Andeutungen, dass er etwas mit der Mafia von Neu-England zu tun hat, er hat jedenfalls darüber geschrieben. Nach wie vor eine komische Räuberpistole, die gar nicht wirklich passen will.

Mittwoch, 30. November 2011

30. November 1967


Hätte ich nicht gedacht, Cresspahl geht zurück nach Jerichow, obwohl die politischen (Vor)Zeichen für einen Sozialdemokraten nun nicht günstig sind. Stellt sich einem, und das ist auch Thema, schon die Frage, ob man 1933 hätte wirklich ahnen können was kommt? Anders gefragt, kann man heute die Anzeichen richtig deuten, die in zehn oder 15 Jahren als wichtig, als ausschlaggebend erkannt werden?

Dienstag, 29. November 2011

29. November 1967

Gesine entspricht dem Wunsch Maries vom 7. Oktober und spricht ihr eine Phonopost „für wenn ich tot bin“. Und wie Marie gewünscht hat auch „was ich erst später verstehe“, denn als Leser ist man – mal wieder – leicht aufgeschmissen. Es geht um Gesines Aussprache, um Maries Unwille anfangs, in New York zu sein und – meiner Erinnerung nach zum aller ersten Mal – um Maries Vater. „Von deinem Vater weiß ich nur das Notwendigste.“ Er war Handballspieler, Sozialist, Untermieter und konnte gut mit Mädchen. Gerde mal mit Steuerung + F das Dokument durchsucht, ob ein Jakob vorkommt. Ja, am 3. Oktober, einer der schon auf dem Friedhof liegt. Denn heute kommt er wieder vor und, so meine Vermutung, es ist Maries Vater, auch Jöche genannt. Und noch was klärt sich, warum Gesine den phantastischen D.E. nicht heiratet: „Wenn ich mich auf einen Menschen einlasse, könnte sein Tod mich schmerzen. Ich will diesen Schmerz nicht noch einmal. Ich kann es mir also nicht leisten, ich auf jemanden einzulassen.“ Oh Gesine, was ist das denn? Was ist dass denn für eine Selbstbeschränkung? Nur weil möglicherweise etwas passieren könnte, versagst Du Dir vieles andere? Und bist du überhaupt ehrlich? Hast Du dich denn nicht schon längst auf D.E. eingelassen? Und was ist mir der Ausnahme Marie? Glaubst Du denn, dass sie nicht morgen verunglücken könnte? Nein, nein meine Liebe, Du bist inkonsequent, Du gibst etwas vor zu sein oder zu tun, was Du gar nicht leisten kannst und willst. Deine Toten in allen Ehren, wirklich, und ich weiß, wo von ich spreche, aber Dein Denken entspringt einer Angst, die gar nichts mit Verlust zu tun hat. Schau Dir das doch mal genauer an. Und wer meint, die Tagesnachrichten aus der NYT würden heute mal fehlen, der irrt. Gesine liest am Anfang aus der Zeitung vor.

Montag, 28. November 2011

28. November 1967


Heute gibt es, nach den üblichen Meldungen aus der NYT, einen Brief – aus Jerichow! Gesine hat dort nach der „Anzahl der jüdischen Kurgäste in den Jahren vor 1933“ angefragt. Die Antwort ist gut zweieinhalb Seiten lang und, wie ich finde zu erwarten, natürlich ohne Antwort. Johnson will hier die DDR aufzeigen und macht die Antwort halt länger, realistisch wäre die Passage aus dem hinteren Teil gewesen: „… dass einzelne statistische Daten … nicht an Privatpersonen ausgegeben werden …“ Das hätte gereicht. Aber so wird Gesine erstmal höflich, wenn auch sehr bestimmt darauf aufmerksam gemacht, dass sie als Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik unterlassen habe, sich vor 14 Jahren abzumelden und daher „nicht von den Pflichten eines Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik entbunden [sei] … und daß Volk und Regierung … [erwartet], daß … [sie] im Sinne … [der] Verfassung für den Frieden und die Verständigung unter den Völkern und gegen die imperialistischen Kriegstreiber … [auftrete].“ Ansonsten lobt sich die DDR in diesem Schreiben vollmundig, preist ihre Errungenschaften an so dass man an das gelobte Land denken muss. Die gewünschten Daten werden auch aus Angst, man könnte Schindluder mit ihnen treiben um die DDR in Misskredikt zu bringen, verweigert. Der ‚souveräne Staat’ sieht auf jeden Fall anders aus – fragt sich natürlich, ob es so einen überhaupt gibt. Manchmal möchte ich echt nicht wissen, was ich alles von diesem Staat nicht weiß, denn das wäre / ist sicher nur erschreckend.

Sonntag, 27. November 2011

27. November 1967


Sommer 1933. Die ersten Flüchlinge treffen bei Cresspahl in Richmond ein. Sozialdemokraten wie er. Von „Konzentrationslagern“ wird gesprochen, aber Cresspahl will nichts wissen. Die Leute bleiben nur kurz bei ihm, nicht, weil er sie nicht haben wollte, es ist ungemütlich, keine Hand die kocht und aufräumt. Und Cresspahl ist auch nicht scharf auf längeren Besuch. Er hat sich nach einer Mrs. Trowbridge erkundigt und war erstaunt zu hören, dass sie ein Kind hat. Eine Verflossene von ihm? Und trägt er sich eigentlich mit dem Gedanken,  nach Deutschland zurückzukehren? Zwischen den Zeilen scheint es mir Andeutungen zu geben.

Samstag, 26. November 2011

26. November 1967


„Heute morgen beginnt die Ubahn acht ihrer 36 Routen anders zu fahren …“ Grund für Johnson genug, sich Seite um Seite über das Ubahn-Fahren in New York auszulassen. Wenn er meint, mich hat’s nicht interessiert.

Freitag, 25. November 2011

25. November 1967


Gut, dass ich den Mittagsschlaf nicht gemacht habe, sonst wäre ich mit den heutigen 14 Seiten (!) ganz schön ins Schleudern gekommen, viel Zeit ist heute nicht. Johnson holt aus, und gibt Aus- und Einblicke auf eine Art gesellschaftliches Panorama in Veränderung. Geschickt steht erst Lisbeth im Mittelpunkt, die ihrem Gatten nach England nur ungerne Briefe schreibt und händeringend nach Inhalten sucht „mal hat sie [Gesine] grüne Augen, mal graue“. Dabei hätte sie mindestens soviel zu schreiben wie Johnson heute, denn in Jerichow nimmt der nationalsozialistische Ungeist weiter Raum. Jüdische Geschäfte werden von Nazis ‚bewacht’, dass niemand kauft, Tierarzt Seming verliert sein Amt als Veterinär, Kleingeister wittern Morgenluft und treten in die Partei ein. Man versucht sich zu arrangieren, man versucht Vorteile sich zu verschaffen. Das tolle an dem Eintrag heute – Johnson arbeitet leichthändig die Motivationen heraus und die sind alles andere als politisch. Hilde beispielsweise ignoriert den Geschäftsboykott nicht aus Überzeugung, sondern weil der Pelzmantel so wahnsinnig billig ist. Der ein oder andere macht sich aus finanziellen Gründen gemein mit den Nazis und so suppt die braune Soße langsam über den Ort, dringt in die Zimmer, Geschäfte und Ämter ein. Ein wirklich starker, entlarvender Text, der extrem glaubwürdig daher kommt, zwar keine Antwort auf die Frage gibt „Wie konnte es soweit kommen“, aber Hinweise liefert. Überzeugende in der Darstellung, nicht aber inhaltlich.

Donnerstag, 24. November 2011

24. Novmeber 1967


Weiter in meiner täglichen „Lindenstraße“ von 1967. Heute so eine Zwischenepisode, in der einfach ein paar Dinge geklärt werden, damit es weiter gehen kann. Dinge, die erzählt werden müssen, die aber an sich nicht gerade Neugierde wecken. Cresspahl kommt in Richmond alleine einigermaßen zurecht, er weiß sich zu organisieren. Perceval, einer seiner Mitarbeiter hat gekündigt, nachdem ihm klar geworden ist, dass Lisbeth wohl nicht wieder kommt. In Deutschland verschärft Hitler die Gesetze – Todesstrafe für den Missbrauch von Uniformen und Abzeichen u.a. – und die Juden kommen ins Visier – Boykott der Geschäfte. Ich muss mir echt mehr Zeit einplanen für die Lektüre, denn die Länge der Einträge haben sich verdoppelt. Waren es bisher meistens so zwei, drei Seiten, sind sechs nun fast schon üblich.

Mittwoch, 23. November 2011

23. November 1967


Das, was es heute zu lesen ist, ist zwar nicht wirklich zeitlos, aber auf alle Fälle so aktuell wie 1967. Gesine und Marie treffen auf der Straßen Francine (siehe 25. Oktober; 1. November), die ungeliebte Muss-Freundin von Marie. Marie gibt Gesine gegenüber Fakten über sie preis. Dass Francine hat schwanger werden wollen, um von der Familie loszukommen; dass ihr Bruder versucht hat sie zu vergewaltigen; das sie in einem Viertel lebt, wo Drogenkonsum zum guten Ton gehört, dass die Mutter sie vernachlässigt; dass jedes Kinder der Mutter von einem anderen Vater stammt; dass sie ihren Vater gar nicht kennt; … Das gibt es heute immer noch genau so. Von Deutschland weiß ich es sicher, von den USA vermute ich es mal so gut wie sicher. Ich hatte gestern ein Gespräch mit einer 21-jährigen, die schon ihren dritten Drogenentzug hinter sich hat. Den ersten hatte sie mit 16. Ein paar Institutionen kümmern sie um solche Leute, wenn sie überhaupt bereit sich, sich kümmern zu lassen. Der Rest schaut weg, will sich das Elend erst gar nicht antun. Das beginnt manchmal in der Familie, spätestens aber ist das Wegschauen in größeren Gemeinschaften gang und gäbe, geschweige denn von Städten und Kommunen. Und wer und wie viele gerade in Afrika verhungern, in Japan verstrahlt, in Mexico erschossen werden – die Frage ist doch die: Was gibt es heute zu essen und was kommt im Fernsehen? Mir fällt diese Aspirin-Werbung ein „Etwas weniger Schmerz in der Welt“ oder so ähnlich. Aber es scheint naiv zu sein zu sagen: Wenn jeder auf seinen Nachbarn aufpasst, sich um ihn kümmert, dann ist allen geholfen.

Dienstag, 22. November 2011

22. Novmeber 1967


So, Johnson hat es geschafft: jetzt sind mir alle drei unheimlich! Bisher war es ja nur Marie, Gesine blieb insgesamt etwas im Hintergrund und D.E. war Beiwerk. Heute geht es ausführlich um D.E. – ein wahrer Schatz, einer, der so gut wie alles weiß, der so gut wie alles bewerkstelligen kann, der ausgeglichen ist, nett, freundlich, nicht aufdringlich, spendabel und was weiß ich nicht alles. Sein einziges Manko: Er trinkt für 70 Dollar im Monat Alkohol – nun ja, das fällt mir jetzt auch nicht gerade schwer. Er ist quasi romanhaft, ein perfekter Mann mit perfekten Manieren und der ‚richtigen’ Einstellung. Da ist keine Macke. Entweder habe ich sämtliche Ironiesignale überlesen – glaube ich nicht – oder Gesine hat eine rosarote Brille auf – möglicherweise – oder Johnson will … ja was denn? Oder versucht Johnson mich an der Nase herumzuführen nach dem Motto: Glaub doch nicht alles, was geschrieben steht. Aber die Nachrichten aus der NYT, die hin und wieder so etwas wie ein Motto oder das Thema liefern, geben das nicht her. Und Gesine wird dadurch unheimlich, dass sie den Typ noch nicht geheiratet hat.

Montag, 21. November 2011

21. November 1967


Am 21. März 1933, Machtergreifung durch Hitler, ist Cresspahl wieder in Richmond. Gesine und Marie waren auch schon da, zusammen mit D.E., haben sich das Städtchen angeschaut und etwas phantasiert, was gewesen wäre, wenn Lisbeth mitgegangen wäre. Müßig meiner Meinung nach, darüber zu spekulieren. An Fakten findet sich. Cressphal stirbt 74-jährig und hat vorher schon die Schreinerei aufgegeben. Marie fasst den Eintrag treffend zusammen: „Ich fand Richmond nicht aufregend.“

Sonntag, 20. November 2011

20. November 1967


Die Einträge werden immer länger. Mysteriös heute, fast unglaubhaft. Marie erhält einen ominösen Anruf. Es geht um Karsch, der die beiden zur UNO eingeladen hatte (11. November). Man verlangt 2.000 Dollar für seine Freilassung und Marie nimmt die Sache ernst. D.E., der eigentlich schon geflogen sein sollte, besorgt das Geld, dann geht es vom Flughafen aus, wie in einem schlechten Film, durch die Stadt, von einem Hinweis zum anderen. Schließlich können sie das Geld übergeben und Karsch finden, der es am nächsten Tag durch Pompa zurückgeben lässt. Unglaubwürdige Räuberpistole, mit der ich gerade so gar nichts anzufangen weiß.

Samstag, 19. November 2011

19. November 1967


Fast scheint es so, als hätte sich Johnson ‚warm’ geschrieben. Schon wieder so ein toller Eintrag. Gesine wird mit gewärmte Taufwasser – „… wo gab es das!“ – getauft und die ganze Gesellschaft ist in unterschiedlichster Stimmung dabei. Das zeichnet Johnson knapp aber wirklich gut. Horst wollte mit Uniform zur Taufe, ist aber von seinem Vater deswegen kräftig zusammengeschissen worden. „Er schrie ganz mühelos, ihm fiel ein Schimpfwort nach dem anderen ein … alles in flüssigem unflätigem Platt …“. Und Horst bekommt beim Mittagessen ein Ultimatum. Entweder er geht nach Brasilien, um den verschollenen Bruder Robert zu suchen, oder er wird wohl nicht den Hof erben. Der alte Papenbrock ist gar nicht so ungeschickt, wenn es darum geht, seinen Sohn von den Nazis wegzubekommen. Ansonsten eine wunderbare Skizze von einer Familienfeier, die von allen beteiligten mit unterschiedlichen Gefühlen und Hoffnungen wahrgenommen werden, ein kleines Kaleidoskop. Und am Ende? Am Ende müssen wir uns wohl von Gesines Vaters verabschieden. Er hat die Koffer gepackt für „den Schnellzug 2 nach Hamburg. Nur fuhr er diesmal allein, und zum letzten Mal.“ Das ist deutlich. Der Schlussdialog zwischen ihm und seiner Frau: „Nun hast du deinen Willen, Lisbeth. – Nun sollst du deinen alle Zeit haben, Heinrich.“ Gesine hat bei der Taufe übrigens drei Namen bekommen, der dritte lautet Albertine, der zweite wird nicht genannt. Und jetzt könnte ich mit meinen eigenen Assoziationen loslegen. Wenn ich Kinder hätte, würde jedes drei Namen bekommen, immer einen auch gegengeschlechtlich. Und Albertine, das ist quasi ne Freundin aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Proust. Und wenn ich es mir so recht überdenke – die beiden haben Ähnlichkeiten.

Freitag, 18. November 2011

18. November 1967


Echt toller Text heute! Wie gestern schon, versteht es Johnson auf ein, zwei Seiten eine Person einzuführen, vorzustellen, dass man meint, man hätte sie letzte Woche bei irgendeiner Gelegenheit kennen gelernt. Diesmal ist es Schwester Magdalena, die Klassenlehrerin von Marie, die Gesine mit einem Brief zu einem Gespräch geladen hat. Es ist ein Geschwurbel, bis sie endlich auf den Punkt kommt. Marie, so stellt sich heraus, hat sich heftig gegen die Vietnam Krieg geäußert, zudem auch gleich noch gegen Präsident Johnson, wenn auch nur indirekt. Das reicht Schwester Magdalena für eine heftige Rüge. Entlarvend für sie wie die Schule der Satz: „Das Institut hätte neulich ein Kind … aus der Schülerschaft gestrichen, weil es am Ende doch nicht imstande war, sich den Vorstellungen der Erzieherinnen von einem wünschenswertem Kind zu nähern.“ Marie ist also in höchster Gefahr, denn so, wie wir sie nun kennen gelernt haben, ist sie nun wahrlich nicht auf dem Mund gefallen. Aber Schwester Magdalena hat offiziell natürlich nur Angst um das seelische Wohlbefinden. Das alles ist zeitlich schwer einzuordnen, denn die heutige Szene spielt, wie immer wenn es dort Samstag und hier Freitag ist, auf der South Ferry. Marie brauchte einige Zeit, bis sie mit dem Thema hervorkam, dann wird aber schon das Gespräch mit Schwester Magdalena – fällt mir nur so gerade ein, so hieß auch meine zweite Stationsschwester während meines Zivildienstes, eine gewisse Seelenverwandtheit ist nicht zu leugnen – berichtet. Schade, dass wir keine Zeitung haben, die sich mal was traut, denn: „Die New York Times ist nicht der Auffassung, dass Präsident Johnson seine Sache schlechter macht als jene Cartoonfigur Bugs Bunny, die in einem fort Erfindungen bastelt, vorgeblich zum Wohle der Mitmenschen, in der Tat zu ihrem Nachteil und Schaden.“ Übertragen auf heute muss man nur „Präsident Johnson“ gegen „die Regierung von …“ austauschen. Und da gibt es einige europäische Regierungen, die deutsche mit Sicherheit nicht ausgeschlossen.

Donnerstag, 17. November 2011

17. November 1967

Der alte Papenbrock und Cressphal bei Avenarius Kollmorgen, dem Anwalt, der gerne mal ein Gläschen trinkt. Papenbrock will die Überschreibung des Gründstückes und des Hauses für Gesine festlegen, aber so, dass Cresspahl nichts davon hat. Der Schuss geht nach hinten los, denn Cressphal macht ihm klar, dass Grundstück und Haus wenig wert sind, er da eh nicht wird arbeiten können, es also an Wert noch weiter verlieren würde. Viel besser wäre es doch, alles zu verkaufen, das Geld anzulegen und es dann Gesine zu geben, wenn sie erwachsen ist. Kollmorgen freut sich sehr über Rede und Gegenrede, sieht Papenbrock als Verlierer. Wie genau jetzt entschieden ist – das sagt Johnson uns nicht. Schönes Portrait von Kollmorgen übrigens und schön u.a. dieser Satz: „Er notierte sich diesen Fehler in seinem Kopf, rechts oberhalb seines fettigen haarigen Ohres, zum späteren Auskosten.“

Mittwoch, 16. November 2011

16. November 1967


Ups, Gesine lernt tschechisch. So verstehe ich das jedenfalls, auch wenn im Text von ‚wir’ gesprochen wird. Marie scheint nicht dabei zu sein. Der Lehrer ist der alte, arme, aber würdige Professor Kreslils, dessen Frau Jitka Kvatshkova die Anmeldedame mimt, als sei man bei irgendeiner hochgestellten Persönlichkeit. Manchmal muss man den Schein wahren, um die Selbstachtung nicht zu verlieren. Es geht sehr altertümlich während des Unterrichts zu und Gesine scheint nicht die Flotteste zu sein. Aber warum macht sie das? Und warum nicht in einer Sprachschule?

Dienstag, 15. November 2011

15. November 1967


Nach den üblichen Meldungen aus der NYT, Johnson kann die herrlich trocken zusammenfassen, ein Gespräch zwischen Marie und Gesine. Es geht um die Taufe Gesine am 19. März 1933. Cresspahl kümmert sich darum, spricht bei Pfarrer Brüshaver vor – den hatten wir schon ausführlich – der ihm wie ein Beamter vorkommt. Tierarzt Semig wird Taufpate, auch wenn alle denken, er sei Jude – was er aber nun mal nicht ist. Marie versteht es nicht ganz bzw. will es nicht verstehen, dass Cresspahl jetzt doch wohl klein beigibt, alles Lisbeth recht macht und wohl beabsichtigt, in Jerichow zu bleiben. „Warum sagt er nicht:“ fragt sie Gesine „Nimm das Kind, nimm die zusammen, geh hinter mir her?“ und bekommt die Antwort: „Du bist doch sonst nicht für Gewalt.“ Schon spannend, wie Marie merkt – aber vielleicht weiß sie ja auch einfach mehr als ich – dass Cresspahl ‚schwächelt’, oder wie soll man das ausdrücken? Ist seine Liebe zu Lisbeth wirklich so groß? Ich wage letzteres ja zu bezweifeln. Mir will es vielmehr so scheinen, dass er sich seinem Schicksal hingibt, weil er wenig Lust und / oder Kraft hat, eine Kraftprobe zu wagen. Das Adjektiv „feige“, wie Marie ihn bezeichnet, trifft vielleicht nicht ganz – aber falsch ist es auch nicht.

Montag, 14. November 2011

14. November 1967


Mal wieder etwas sperrig heute. Johnson ist nicht sehr geeignet, ihn zusammen zu fassen, auf das Wesentliche zu reduzieren. Spricht jetzt aber nicht gegen ihn! Cressphal, schon seit 14 Tagen wieder in Deutschland geht durch Jerichow. Und alle die ihn sehen, denken, er ist auf Abschiedstour, da er seine Werkstatt ja wohl nicht länger alleine lassen kann. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Cresspahl wohl bleiben wird, aber das ist ein Gefühl. Passiert ja nicht selten, dass man denkt etwas oder einen anderen einschätzen zu können, alle Umstände sprechen für eine gewisse Aktion – und dann wird es doch eine vollkommen andere, weil man ein kleines Detail übersehen oder nicht ausreichend gewürdigt hat. Ansonsten Bericht über die kleinen Veränderungen in der Stadt, wie die Nazis Zentimeter für Zentimeter an Boden gewinnen. Nie spektakulär, langsam halt, aber beständig. Einen langen Atem braucht man für Johnson …

Sonntag, 13. November 2011

13. November 1967


Amanda Willson, eine Kollegin von Gesine wird vorgestellt und beschrieben, wie sich der Bus durch den Feierabendverkehr quält und „das Grünlicht mehrmals von fern sterben sieht“.

Samstag, 12. November 2011

12. November 1967


Ich hab’s drei Mal lesen müssen, bevor ich eine Ahnung bekam. Sicherheitshalber habe ich echt im Kommentar nochmals nachgeschaut. Dort heißt es: „Es kommt auf ... Tag nicht an - Mit diesem Satz macht Johnson auf zwei Verstöße gegen von ihm selbst aufgestellte Prinzipien für die Abfassung seines Romans aufmerksam: gegen das Jahrestag-Prinzip, denn Lisbeths Todestag vor 29 Jahren war bereits der 10. November, und gegen die Vereinbarung mit seiner fiktiven Person Gesine, wonach nur Ereignisse ihres Lebens und Bewußtseins und das auch nur mit ihrer Genehmigung Eingang in den Roman finden dürfen.“ Ein Art innerer Dialog ist es, der nicht gerade liebevoll an Lisbeth erinnert. Es wird von ihrem Hochmut gesprochen, ihrem Egoismus. „Du wolltest nicht alle kränken. Ihn hast du gekränkt. Du hast mich gekränkt. Ein Kind. Wir verzeihen dir gar nicht.“ Das ist harter Tobak und der erste Hinweis auf der Verhältnis von Gesine zu ihrer Mutter. Und wie für alle Tote gilt: „Es gäbe dich nicht, wenn wir dich nicht mehr wollten.“ Heftig heute.