Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 29. Oktober 2011

29. Oktober 1967


Heute steht der (alte) Pastor Wilhlem Methling im Vordergrund, eine kirchliche Erscheinung quasi, die Jerichow ganz gut in den Griff bekommen hat. Er weiß was er will und wie er es bekommt, kurz, alle kuschen vor ihm. Und so einem glaubt man auch – und so einer kann eben auch verführen. Methling nach diesem Eintrag als Nazi zu bezeichnen wäre übertrieben, aber judenfreundlich ist er jedenfalls nicht. Aber er sitzt auf dem Altenteil und Cresspahl will beim neuen Pastor Brüshaver das Kind anmelden. Und Marie hat ein paar intellektuelle Probleme mit der Zeitumstellung, wie so viele morgen – eine Stunde vor oder zurück? – und ich bin vollkommen verwundert, dass die in den Staaten 1967 Sommer- und Winterzeit hatten.

Freitag, 28. Oktober 2011

28. Oktober 1967


Tag der South Ferry. Johnson nimmt uns aber nicht mit diesmal. Er reflektiert in Gestalt von Gesine über, ja über was genau denn, es sind nicht nur die Worte mit ihrer semantischen Bedeutung. Schwierig, schwierig heute. Es geht auch nicht um die Umwidmung der semantischen Bedeutung, vielmehr um das damit konnotierte. Das Wort, die Bezeichnung „der Jude“ ‚klang’ vor 1939 anders, als „der Jude“ während dieser Zeit und „die Juden“ danach. Im Text heißt es dann allgemein: „Sie waren keine Worte, nur Behältnisse, tönende, für Inhalte, die nicht zu ihnen gehörten, die in sich gemischt waren und als undeutliche Masse zwischen Buchstabenwänden umherkrochen, sich ausdehnend, ballend, weich, wabernd, nicht fassbar.“ Er versucht herauszuarbeiten, wie es funktioniert, wenn im Begriff schon ein Urteil mitgesprochen, mitbegriffen wird, dass im Begriff selbst gar nicht enthalten ist (so verstehe ich den Text heute wenigstens). Und es geht nicht um die Bedeutungsveränderung, denen Wörter über die Zeit unterlegen sind – „Dirne“ bezeichnete früher ein hübsches, unschuldiges Mädchen – sonder um, ja, um so was wie ein moralisches Urteil, eine moralische Beurteilung? „Der Schwule“ als Inbegriff des Amoralischen und heute auf dem Weg zur ‚Normalität’? Der Text will sich heut mir nicht erschließen – aber so habe ich heute mal was zu denken.

Donnerstag, 27. Oktober 2011

27. Oktober 1967


Wie es scheint, habe ich gestern thematisch vorgegriffen, denn zu Beginn heißt es heute: „Der Mensch ist geneigt, Dinge zu vergessen, die mit unangenehmen Erfahrungen zu tun haben.“ Das wird dann in einem Dialog – mit wem? – etwas variiert. Aber ich bleibe auch dabei: Man vergisst auch gern aus eigener Bequemlichkeit.

Mittwoch, 26. Oktober 2011

26. Oktober 1967

Es kam, wie es nicht hätte kommen müssen in Jerichow. Die Nazis beginnen das Stadtbild zu prägen. Sie haben die Reichtagswahlen gewonnen und nun meint auch noch der kleinste Nazi Herr, Herrenmensch zu sein. Dazu auch Horst Papenbrock, Gesines Onkel. Er entdeckt den leeren Mast an der Schule, kurze Zeit später weht da die Nazifahne. Er entdeckt die leere Fahnenstange auf dem Rathaus – dann auch da die Fahne, bewacht natürlich. Der Bürgermeister von Jerichow, Dr. Erdamer, Sozialdemokrat seines Zeichens, ist machtlos. Ist er feige? Hätte er nicht? Hätte er nicht dennoch können? Johnson, finde ich, tippt diese Fragen ganz leicht an, aber dabei bleibt es auch. In meiner Jugend habe ich mich ausführlich mit dieser Zeit beschäftigt und vor allem versucht der Fragen nachzugehen, wie konnte es dazu kommen. Damit meine ich jetzt nicht die Wahlen etc. pp., sondern die Stimmung im Volk. Ist es wirklich ‚verführt’ worden oder hat es sich nicht einfach gerne verführen lassen? Oder war es schlichtweg dumm? Oder waren die Nazis so geschickt? Einer Antwort bin ich nie wirklich nahe gekommen, aber jetzt, gut zwei Jahrzehnte später neige ich dann doch dazu, dass es feige Dummheit war – und die Bequemlichkeit, die sich in diesem Konstrukt verbirgt, hat heute meiner Meinung nach extrem zugenommen. Die Gesellschaft ist etwas, die Individualität wichtiger und der Egoismus alles. ‚Verführbar’ ist dieses Volk, und nicht nur dieses, genauso einfach, genauso schnell. Noch gibt es Regularien, Menschen, Stimmen, die das „Wehret den Anfängen“ hochhalten können, wie lange aber noch? Hat die deutsche Gesellschaft wirklich was gelernt oder ist sie schon wieder am vergessen? Als ich in jungen Jahren  oft in Polen war, um ehemalige KZ-Häftlinge zu besuchen, ihnen zuzuhören, mit ihnen zu essen, zu trinken, zu lachen, mit ihnen die KZ’s zu besuchen, mir zeigen zu lassen, auf welcher Pritsche sie damals ihren Platz hatten, mit ihnen manchmal auch zu weinen und doch mit ihnen Stunden, manchmal Tage in regem Austausch über alles  –  von Telefongebühren in Deutschland bis zur aktuellen Opernpremiere in Warschau und was sonst noch gerade von Interesse war (interessanterweise auch das Thema nacktbaden) – war der meistgeäußerte Satz: „Den Deutsche zu vergeben fällt schwer, aber wir tun es – es zu vergessen ist uns aber unmöglich, und das ist die Botschaft.“ Der Mensch vergisst, eine Gesellschaft noch viel schneller, vor allem dann, wenn es die eigenen, kleinen, bequemen Interessen behindert. Gegen Stuttgart 21 geht der Wutbürger auf die Straße (gut so), aber gegen Ausländerfeindlichkeit, gegen Diskriminierung, gegen Harz IV, gegen die ungerechten Steuergesetzte usw. da findet sich kaum ein Wutbürger, entweder weil es ihm einfach am Arsch vorbei geht oder er zu keinen Einschränkungen bereit ist – Hauptsache er kann seinen perversen SUV fahren, die Wohnung auf 22 Grad hochheizen und zweimal im Jahr in den Urlaub fliegen – hat er sich ja angeblich auch verdient, auf wessen Kosten nun auch immer. Ne, ne – mag sein, dass ‚die Deutschen’ was gelernt haben, aber das Vergessen ist stärker.

Dienstag, 25. Oktober 2011

25. Oktober 1967

Marie hat Sorgen mit einer Klassenkameradin aus Harlem, weil sie ‚gefärbt’ ist und daher eine ‚Ausnahme von diesem Leben hier in diesem Land“ ist. Hätte ich Marie nicht zugetraut. Da sie aus bestimmten Gründen kostenlos die Schule besuchen darf, bekommt sie auch gleich noch den Titel „Alibi-Negerin“ ab. Aber sie hilft ihr dennoch seit sieben Wochen. Aber es fällt ihr schwer, freundlich zu sein und ist um ihr Außenbild bei den Freundinnen besorgt. 

Montag, 24. Oktober 2011

24. Oktober 1967


Cresspahl geht mit seinem Schwiegervater eher unwillig ausreichend auf das neugeborene Kind saufen. Wohl fühlt er sich nicht, will mit Lisbeth zurück, sie sagt nicht nein, nennt aber auch kein Reisedatum. Der Name für das Kind ist eher Zufall, eine Geschichte steckt nicht dahinter (bisher).

Sonntag, 23. Oktober 2011

23. Oktober 1967


Gesine hat heute einfach keine Lust zu sprechen. Sie mag einfach nicht reden. Kenne ich gut. Beschreibung ihres Weges zur Arbeit, die Probleme, nicht reden zu wollen aber zu müssen. Und am Schluss aus dem Dialog zwischen Marie und Gesine: „Weißt du noch, über was du traurig warst. – Nein. – Das sind die gottverfluchten Monate, Gesine. Manchmal mag ich auch nicht, Gesine.“ Wie wahr, wie wahr!