Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Mittwoch, 26. Oktober 2011

26. Oktober 1967

Es kam, wie es nicht hätte kommen müssen in Jerichow. Die Nazis beginnen das Stadtbild zu prägen. Sie haben die Reichtagswahlen gewonnen und nun meint auch noch der kleinste Nazi Herr, Herrenmensch zu sein. Dazu auch Horst Papenbrock, Gesines Onkel. Er entdeckt den leeren Mast an der Schule, kurze Zeit später weht da die Nazifahne. Er entdeckt die leere Fahnenstange auf dem Rathaus – dann auch da die Fahne, bewacht natürlich. Der Bürgermeister von Jerichow, Dr. Erdamer, Sozialdemokrat seines Zeichens, ist machtlos. Ist er feige? Hätte er nicht? Hätte er nicht dennoch können? Johnson, finde ich, tippt diese Fragen ganz leicht an, aber dabei bleibt es auch. In meiner Jugend habe ich mich ausführlich mit dieser Zeit beschäftigt und vor allem versucht der Fragen nachzugehen, wie konnte es dazu kommen. Damit meine ich jetzt nicht die Wahlen etc. pp., sondern die Stimmung im Volk. Ist es wirklich ‚verführt’ worden oder hat es sich nicht einfach gerne verführen lassen? Oder war es schlichtweg dumm? Oder waren die Nazis so geschickt? Einer Antwort bin ich nie wirklich nahe gekommen, aber jetzt, gut zwei Jahrzehnte später neige ich dann doch dazu, dass es feige Dummheit war – und die Bequemlichkeit, die sich in diesem Konstrukt verbirgt, hat heute meiner Meinung nach extrem zugenommen. Die Gesellschaft ist etwas, die Individualität wichtiger und der Egoismus alles. ‚Verführbar’ ist dieses Volk, und nicht nur dieses, genauso einfach, genauso schnell. Noch gibt es Regularien, Menschen, Stimmen, die das „Wehret den Anfängen“ hochhalten können, wie lange aber noch? Hat die deutsche Gesellschaft wirklich was gelernt oder ist sie schon wieder am vergessen? Als ich in jungen Jahren  oft in Polen war, um ehemalige KZ-Häftlinge zu besuchen, ihnen zuzuhören, mit ihnen zu essen, zu trinken, zu lachen, mit ihnen die KZ’s zu besuchen, mir zeigen zu lassen, auf welcher Pritsche sie damals ihren Platz hatten, mit ihnen manchmal auch zu weinen und doch mit ihnen Stunden, manchmal Tage in regem Austausch über alles  –  von Telefongebühren in Deutschland bis zur aktuellen Opernpremiere in Warschau und was sonst noch gerade von Interesse war (interessanterweise auch das Thema nacktbaden) – war der meistgeäußerte Satz: „Den Deutsche zu vergeben fällt schwer, aber wir tun es – es zu vergessen ist uns aber unmöglich, und das ist die Botschaft.“ Der Mensch vergisst, eine Gesellschaft noch viel schneller, vor allem dann, wenn es die eigenen, kleinen, bequemen Interessen behindert. Gegen Stuttgart 21 geht der Wutbürger auf die Straße (gut so), aber gegen Ausländerfeindlichkeit, gegen Diskriminierung, gegen Harz IV, gegen die ungerechten Steuergesetzte usw. da findet sich kaum ein Wutbürger, entweder weil es ihm einfach am Arsch vorbei geht oder er zu keinen Einschränkungen bereit ist – Hauptsache er kann seinen perversen SUV fahren, die Wohnung auf 22 Grad hochheizen und zweimal im Jahr in den Urlaub fliegen – hat er sich ja angeblich auch verdient, auf wessen Kosten nun auch immer. Ne, ne – mag sein, dass ‚die Deutschen’ was gelernt haben, aber das Vergessen ist stärker.

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