Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 22. Oktober 2011

22. Oktober 1967


Diesen Eintrag, leicht abgeändert, könnte man auch in jeden in diesem Jahr erschienen Roman finden. Gesine wird gefragt, warum sie gestern nicht auf einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg war. Weil es sich nicht lohnt, weil sie Angst vor Schlägen hat, Angst vor Gefängnis. All das, was heute auch jeder sagt, der nicht hingeht. Es ist die Ohnmacht des Bürgers vor der von ihm (mehr oder weniger) gewählten Politik. Der Bürger als Souverän ist es in dem Moment, in dem Augenblick, wo er wählen geht und seinen Stimmzettel in die Urne (sic!) wirft. Das war es dann auch wieder für vier Jahre. Auf kommunaler Ebene lässt sich durch Bürgerbeteiligung zwar noch Kleinigkeiten beeinflussen, doch auf Bundesebene ist man machtlos. In der Hinsicht ist das Projekt der Piraten-Partei mal ganz spannend. Gibt es eine andere Möglichkeit? Irgendwie gerade frustrierend, dass sich da nix ändert.

Nachtrag 1: Der olle Cresspahl hat übrigens seinen Wunsch bekommen, es ist ein Mädchen geworden und nicht, wie Lisbeth, am 9. Oktober, meinte ein Junge, der Heinrich heißen sollte. Hier nachlesen.

Nachtrag 2. Peinlich, peinlich. "Cresspahl" so gut wie die ganze Zeit falsch geschrieben und "Lisbeth" dann auch gleich noch dazu. Jetzt darf ich mich einer Änderungsorgie ergeben.

Freitag, 21. Oktober 2011

21. Oktober 1967


Ich war gestern in Eile und man möge mir verzeihen, dass ich etwas wirklich Wichtiges vergessen habe, und zwar  den letzten Satz: „An diesem Morgen, Freitag den dritten März 1933, wurde Gesine Cressphal in Jerchiow geobren.“ Aber jetzt zu heute. Es ist mal wiede Samstag, also Ferry Tag und wie es scheint für ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter reserviert. Gesine erzählt also, von ihrer eigenen Geburt, soweit sie es weiß aus Erzählungen. Cresspahl kam leicht angetrunken nachmittags aus Lübeck, im Hause Papenbrocks ist natürlich allerhand los. „Na alter Schwede. Viel Mühe haben Sie sich ja nicht aufgewandt. Eine Junge ist es nicht.“ So die Begrüßung durch den Arzt. Und Cressphal antwortet auf die Frage, da er fragt, wann seine Frau wieder reisefähig ist, „Was wollen Sie jetzt noch in England. Jetzt, wo Deutschland endlich wieder hochkommt“ lapidar: „Das sieht man nicht so von weitem.“ Aber von Nahem schon, denn Horst zählt beim Wein auf, wievil Kommunisten verhaftet worden von den Nazis an dem Tag. Dann noch ganz schnell, die Funktastatur macht schlapp, noch eine schöne Formulierung. Marie wird gebeten eine japanische Familie zu photographieren, was Johnson so formuliert:  „… und den Besuchern den Beweis ihrer Weltreise in die Kamera drückte.“

Donnerstag, 20. Oktober 2011

20. Oktober 1967

Der bisher längste Eintrag, fast sieben Seiten. Und: Ich sollte vielleicht nicht so voreilig sein. Cresspahl macht sich auf nach Jerichow. Bis Lübeck ist er schon gekommen, will sich nicht eilen und einen Zug übeschlagen. Er besichtigt die Stadt, in denen die Nazis Präsenz zeigen, besucht seinen alten Freund Erwin Plath, der aber nicht zu Hause ist. Entdeckt ihn bei einem Trauerzug (mit Nazi-Begleitung), was sogar nicht zu Erwin passen will. Cresspahl übernimmt für ihn einen Botengang – was genau, warum genau, es bleibt im Ungewissen. Es sind fremdländische Pässe, die er abgibt, sich nochmals mit Erwin trifft, der betont locker tut. Alles geheimnisvoll, angedeutet. Am Bahnhof gibt es keinen Zug mehr, zurück zur Erwin, wo er verhaftet wird. Erwin wird wohl verdächtigt, der unbekannte Besucher erst recht, dessen Begründung nicht sehr plausibel erscheint. Doch es liegen keine weiteren Verdachtsmomente vor und da sich beide aus der Militärzeit kennen, wird er vormittags wieder frei gelassen. Und wie beschreibt man am besten eine gut-bürgerlich-konservative Wohngegend? „Hinter den stillen Gardinen war nichts entsetzlicher als daß Marlene Dietrich in Hosen aufgetreten war, nichts dringlicher als der Tonfilm ‚F. P. 1 antwortet nicht mehr’ noch einmal zu sehen …“

Mittwoch, 19. Oktober 2011

19. Oktober 1967

Wieder mal zurück in Jerchiow. Cresspahl liest in der Zeitung, dass Hitler Reichskanzler geworden ist, macht sich aber mehr Sorgen darüber, dass seine Frau, in der 31. Woche schwanger, ins kalte Deutschland zurückgekehrt ist. Er ist mieser Stimmung, was seine Arbeiter auch merken. Abends geht er jetzt saufen und nach drei Wochen kann er sich einreden, sie sei mit seinem Einveständnis, ja sogar auf sein Drängen hin gefahren. Ich glaube nicht, dass die sich wieder sehen.

Dienstag, 18. Oktober 2011

18. Oktober 1967


Heute habe ich echt lange gebraucht, um den Text zu kapieren. Steht zwar immer 1967 oben drüber, aber man weiß ja nie, ob es doch nicht mal wieder in Jerchiow spielt, ein paar Jahrzehnte früher. Aber dann habe ich es doch kapiert. Gesine betätigt sich als Fluchthelferin! Jedenfalls leiht sie sich Pässe von anderen, die sie dann an ihre Freundin Anita „Rotekreuz“ sendet, die sie wiederum benutzt, um Leute aus der DDR – im Buch noch „D.D.R.“ – zu holen – irgendwie so halt. Dazu die ausdrückliche Bitte, es nicht zu den Selbstkosten zu betreiben, wie „Henriette“ – anscheinend ist Gesine in der Szene bewandert – die „Butter aufs Brot solltest ihr mindestens verdienen“. Der zweite Teil eher persönlich gehalten, kein Heimweh nach Düsseldorf und eine Einladung nach New York aus Anlass ihres Doktorexamens „mit Teilkosten“. „Und wir würden dich einführen in die Lektüre der New York Times, der erfahrensten Person der Welt“. Aber über eine Formulierung komme ich nicht hinweg, was sind „ungerade Erinnerungen“, die Gesine ihr erzählen will?

Montag, 17. Oktober 2011

17. Oktober 1967


Das Stichwort heute: Methamphetaminhydrochlorid, die „Geschwindigkeitsdroge“. Eigentlich eine Nebensächlichkeit in Verbindung mit Linda Fitzaptrick – wer das nun auch immer ist, die dem zugesprochen hat. Held heute ist Sam, der in der Hauscafetria bedient. Und was Johnson da abliefert, gehört echt zum feinsten an Beobachtung. Zwei Seiten beschreibt er den Arbeitsstil, die Schnelligkeit, seine Redegewandheit – und es ist, als würde man ihn selber kenne bzw. schon gesehen haben. Es ist einfach ein kleines Juwel der Beschreibung, nicht übertrieben, nicht aufgebauscht, kein Understatement – es ist die Beschreibung eines agilen Arbeiters. Eine Beschreibung eines faszinierenden Menschen, der nichts in der Welt zu sagen hat, aber sie prägt, andere Menschen vielleicht nicht begeistert, aber, bei wachem Geist, für Bewunderung sorgt, für Respekt für Anerkennung. Vor Jahren beobachtete ich einmal eine Kassiererin in einem Supermarkt – man tippte das damals noch ein, scannen gab es noch nicht – die nannte schon die Summe, wenn man als Kunde die letzte Ware aufs Band gelegt hatte. Ich bin öfters dort einkaufen gegangen, um das einfach zu Erleben und war immer voller Respekt, mit welcher Geschwindigkeit und Lockerheit sie da tippte, ohne auch nur ein  einziges Produkt in die Hand zu nehmen.  Ich glaube, wenn man sie darauf angesprochen hätte, hätte sie verwundert geschaut und gesagt: „Ich mache meine Arbeit.“

Sonntag, 16. Oktober 2011

16. Oktober 1967


Die täglichen Berichte aus der NYT sagen mir manchmal etwas, manchmal überhaupt gar nichts. Kein Wunder, schließlich konnte ich 1967 noch nicht lesen. Aber für einen Zeitgenossen müsste das schon ein andauerndes Aha-Erlebnis sein, gefolgt von einem, „Ach ja, stimmt ja!“ Johnson führt zurück ins Jahr 1932/33 mit den Worten: „Er hatte Lisbeth Papenbrock eingewöhnt geglaubt, …“ um dann aufzuzählen, dass sie nun auch auf englisch telefoniert, keine Lust auf Deutsches hat, sich auf die Geburt vorbereitet und sich anscheinend eingelebt hat. Aber dieses „geglaubt“ führt natürlich auf das Gegenteil hin. Sie will zurück nach Hamburg, im Januar 1933. Er vorsichtig: „Du kannst nicht beides haben, ein Kind bei dir zu Hause und mich auch in Jerichow.“ Worauf sie kontert: „Was geht dich das Kind an, Cresspahl“. Ok, das scheint es wohl mit der Ehe gewesen zu sein vermute ich mal, da kommt nicht mehr viel. Marie fragt Gesine, ob sie es „erheblich vorziehen“ würde, in Richmond geboren zu sein, was sie bejaht. Aber es ist sinnlos zu spekulieren, was wäre gewesen wenn …