Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 15. Oktober 2011

15. Oktober 1967


Marie muss als Hausaufgabe einen Aufsatz schreibe, mit dem pädagogisch wertvollen Titel: „Ich sehe aus dem Fenster“. Also ich musste immer schreiben: „Mein schönste Ferienerlebnis“, wirklich! Da nix los ist, schreibt sie, wie das Haus gegenüber abbrennt. Als sie Gesine den Text zeigt, will sie nur den Schluss geändert wissen, statt: „Meine Mutter sagt, so ist es im Krieg“ in „Meine Mutter sagt, so ähnlich sie es im Krieg aus.“ Marie zeigt sich bereit, ist eh ein Kompromiss, da Gesine gesagt hatte: „roch es nach Krieg.“ Machte mich stutzig, aber gestern berichtete der Eintrag von einem abgebrannten Haus, von vor 17 Monaten. Und dann noch aus der NYT: „Westdeutsche Studenten haben öffentliche Zeitungen verbrannt, um ihre politische Meinung auszudrücken.“ Wirklich? Hab’ ich nie gehört, denn wenn das so wäre, dann würde es mir schwer fallen zu glauben, Nazi-Aktionen zu wiederholen.

14. Oktober 1967


Kurz zusammengefasst: Was ist Heimat? Die Zugehörigkeit? Die Vertrautheit? Die Vertrautheit, will der heutige Text einem suggerieren, aber im Unterton nimmt er es aber gleich wieder zurück. Mir ist der Begriff fremd. Ich benutze ihn auch nie. Ich wohne irgendwo, bin aber nirgends beheimatet. Gibt es sie überhaupt noch die ‚Heimat’, kann sie es in der verknüpften Welt noch geben. Ein auslaufender Begriff, in 50 Jahren werden die ersten Magisterarbeiten, äh, auch so ei auslaufender Begriff, Bachelor-Arbeiten darüber geschrieben.

Donnerstag, 13. Oktober 2011

13. Oktober 1967

Cresspahl, und das ist neu, unterhält mit dem Gastwirt Peter Wulff einen regen Briefwechsel. Was heißt Briefwechsel – sie schicken sich gegenseitig Zeitungsausschnitte. Sie sind auf der selben Wellenlänge, waren beide bei den Sozialdemokraten, erlebten beide den 1. Weltkrieg und wissen, was ein Gasangriff bedeutet. Das kontrastiert natürlich Johnson gleich mit einer Episode aus Amerika, in dem er erzählt, dass dort sechs Neger ein Cafe überfallen hätten, die Besucher ausgeraubt und mit Gas außer Fecht gesetzt hätten. Und dann gibt es noch Neues von Elisabeth Lieplow, der Freundin von Horst. Sie lässt, das sie ja BDM-Führerin ist, sonntags ihre Mädchen eine halbe Stunde vor Gottesdienstbeginn in unmittelbarer Nähe der Kirche „knapp bekleidet … abzappeln“.

12. Oktober 1967


Komisch. Kompliziert – und im Grunde unverständlich. Nach den üblichen Meldungen aus der NYT gibt es Phonopost von D.E., der in Griechenland weilt und wohl nach Albanien und Mailand will. Krudes Durcheinander. Soweit ich verstanden habe, hat D.E. jedes zweite Wort von Gesines Phonopost gelöscht und dann hineingesprochen. Das liest sich dann so: „Du hast du bist ein Stück du hast die Bandkasette markiert kann ich sie nicht austauschen muß ich mit jdem Wort von mir eines von dir auslöschen warum.“ Aber wenn man versucht, nur jedes zweite Wort zu lesen, wird auch kein Schuh draus. Mal sehn, ob ich da was verpasst habe.

Dienstag, 11. Oktober 2011

11. Oktober 1967

In New York regnet es. OK – weiter nicht wichtig. Berichte aus Jerchiow. Die Nazis legen eine Zigarettenmarke namens „Trommler“ auf, in de Packung ist jeweils ein „Bildnis eines nationalsozialistischen Politikers“ – warum kommen die heutigen nicht auf die Idee? Befürchten sie, dass die Steuereinnahmen dann rapide sinken? Doch die Oberhand haben die Nazis, zumindest in Jerchiow noch nicht, einer wird verhauen und gilt nun als Märtyrer. Abschließend noch Erinnerungen (!) – wir schreiben das Jahr 1967! An die Hippies: „Die Sache mit der Liebe ist tot.“ Aber zumindest lebt immer noch die Erinnerung – also bei einigen.

Montag, 10. Oktober 2011

10. Oktober 1967

Der erste Eintrag, der nur aus Dialogen besteht. Aber dafür gleich so, dass man die Rollen kaum (wenn überhaupt) auseinander halten kann. Jemand versucht Gesine beruflich anzurufen. Aber Amanda kann immer nur mitteilen „Mrs. Cresspahl ist nicht in ihrem Büro“. Derweil unterhält sich aber der Anrufer mit anderen über sie und so wissen wir jetzt das sie ein „ganz anehmbares Gestell“ hat (habe ich mir aber auch nie anders vorgestellt). Und ‚lustig’, derweil diskutieren sie Tagesereignisse und verweisen immer auf Gesine, die ja so was wissen müsste, immerhin liest sie ja die New York Times. Dann kommt sie doch noch ans Telefon – sie hat eine Gehaltserhöhung bekommen und schmeißt am Abend ne Runde Bourbon – das Eis ist mitzubringen.

Sonntag, 9. Oktober 2011

9. Oktober 1967

„… in einer nassen Nacht ohne Gewitter“ gefällt mir einfach, auch wenn ich stutzen musste. Aber dann stellt sich heraus, dass Lisbeths Schwester Hilde, verheiratet mit einem Hr. Dr. Paepcke in Krakau, ein paar Schwierigkeiten hat, denn ihre Ziegelei brannte ab – und die Versicherung gerade eben erst abgeschlossen. Ansonsten imaginiert sich Lisbeth, wie ihre Mutter ihr Briefe schreibt und sie stolz zur Post bringt – wer hat schon eine verheiratete Tochter im Ausland? Horst, Lisbeth Bruder, schickt ihr ein Bild seiner Freundin mit, einer „fülligen Brünetten“ die beim Bund Deutscher Mädchen ist. Und am Schluss noch ein Postskriptum, das nicht ohne Witz ist. Lisbeth schreibt an ihre Mutter: „Cresspahl will ein Mädchen. Und wenn ich recht bekomme, heißt der Junge Heinrich.“