Amtlicher Trauertag der Nation, aber Gesine,
Marie und D.E. sind auf und über das Land, schließlich bei D.E.’s Mutter. Man
bereitet ein großes Essen vor, derweil D.E. und wohl auch Johnson Gesine
animieren wollen, Marie weiter zu erzählen. Aber die will nicht von den
sowjetischen Lagern sprechen, in denen der alle Cresspahl noch immer nicht,
auch nicht von ihrer Schulzeit, die man sich ja vorstellen kann: Die Russen
sind nun die besten Menschen der Welt und haben auch alles erfunden was wichtig
ist. „Wann ungefähr soll Marie die Lektion denn so nachholen? / Mit fünfzehn …
/ Das Jahr 53 bekommt sie dann zur Volljährigkeit. Dein Ableben dürfen wir ihr
erst mitteilen, wen sie selber auf dem Totenbett liegt.“ Das Rededuell geht
unentschieden aus. Ach so, das Abendessen noch, D.E.: „Ursprünglich habe er
auch an diesem Tage wieder die Familie Cressphal heiraten wollen, er sei jedoch
beruflich verhindert …“ Er plant jetzt für September. Der letzte Satz des
heutigen Eintrages: „Paßt es uns im September? fragte Marie.“
Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.
In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.
Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten
Samstag, 9. Juni 2012
Freitag, 8. Juni 2012
8. Juni 1968
Marie ist absolut nicht vom Fernseher wegzubekommen. Weiter
geht es mit dem Betrachten des Leichenzuges, der sich wohl über zwei Tage
hinzieht. D.E. ist gekommen, Gesine bittet ihn flehentlich, Marie von der Kiste
wegzubekommen. Aber er setzt sich neben sie, mit Tabak und Rotwein und schaut
den Vormittag erstmal durch. „… erst gegen zwei Uhr beweist er ihr mit Annies
vorgewärmtem Badethermometer sowie auch wahnwitziger Wissenschaft, dass nun
eine Implosion des Geräts vorgebeugt werden muß.“ Dann geht’s erst mal
schwimmen – und der Abend wird wieder vor der Kiste verbracht. D.E. und Marie
mokieren sich etwas über das Verhalten der Witwe, die scheinbar die
Aufmerksamkeit genießt und halten durch, dass immer das Selbe gezeigt wird. Aber
Marie ist das wichtig und als sie dann nachts im Auto sitzen in Richtung der
Wälder von New Yersy, so wie es D.E. geplant hatte, bedankt sie sich bei ihrer
Mutter. Johnson lässt natürlich nicht aus, einen Vergleich der Trauer im
Fernsehen mit dem Straßenleben anzustellen. – normaler Samstag eben. Die
Beerdigung von Willi Brandt und Johannes Paul II. schaute ich bei anderen
Leuten an und empfand es auch sehr eigenartig, wie draußen vor der Tür das
Leben so normal weiter geht. In „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ gibt es das
vielleicht etwas kitschige, aber dann doch sehr passende Gedicht dazu.
Haltet alle Uhren an, laßt das Telefon abstellen,
Hindert den Hund am bellen, indem ihr ihm einen Knochen gebt,
Klaviere sollen schweigen, und mit gedämpftem Trommelschlag,
Laßt die Trauernden nun kommen, tragt heraus den Sarg.
Hindert den Hund am bellen, indem ihr ihm einen Knochen gebt,
Klaviere sollen schweigen, und mit gedämpftem Trommelschlag,
Laßt die Trauernden nun kommen, tragt heraus den Sarg.
Laßt Flugzeuge kreisen, klagend im Abendrot,
An den Himmel schreibend die Botschaft Er ist tot;
Laßt um die weißen Hälse der Tauben Kreppschleifen schlagen,
Und Verkehrspolizei schwarze Baumwollhandschuh’ tragen.
An den Himmel schreibend die Botschaft Er ist tot;
Laßt um die weißen Hälse der Tauben Kreppschleifen schlagen,
Und Verkehrspolizei schwarze Baumwollhandschuh’ tragen.
Er war mein Nord, mein Süd, mein Ost und West,
Meine Arbeitswoche und mein Sonntagsfest,
Mein Gespräch, mein Lied, mein Tag, meine Nacht,
Ich dachte, Liebe währet ewig: Falsch gedacht.
Meine Arbeitswoche und mein Sonntagsfest,
Mein Gespräch, mein Lied, mein Tag, meine Nacht,
Ich dachte, Liebe währet ewig: Falsch gedacht.
Die Sterne sind jetzt unerwünscht, löscht jeden aus
davon,
Verhüllt den Mond und nieder reißt die Sonn’,
Fegt die Wälder zusammen und gießt aus den Ozean,
Weil nun nichts mehr je wieder gut werden kann
Verhüllt den Mond und nieder reißt die Sonn’,
Fegt die Wälder zusammen und gießt aus den Ozean,
Weil nun nichts mehr je wieder gut werden kann
(W. H.
Auden)
Donnerstag, 7. Juni 2012
7. Juni 1968
Gesine vermutet Marie auf dem Leichenzug für
Kennedy. Die sitzt aber zu Hause vor dem Fernseher und schaut es sich dort an.
Mittwoch, 6. Juni 2012
6. Juni 1968
„Vorläufige Notizen für fakultativen Aufsatz“.
Auf acht Seiten Materialsammlung zum Tod von Kennedy. Lebenslauf von ihm, dem
Mörder, versuchte und geglückte Attentate, zeitlicher Ablauf. Fleißig, fleißig,
Marie!
Dienstag, 5. Juni 2012
5. Juni 1968
Marie und Gesine sehr aufgeregt. Senator Kenney ist angeschossen worden
(und sollte dann am nächsten Tag sterben). Und Marie besorgt gegen
Leihgebühr einen Fernsehen, um nachrichtenmäßig auf dem Laufenden
bleiben zu können.
Montag, 4. Juni 2012
4. Juni 1968
Was für ein langer Eintrag. Und das heute.
Das hätte echt nicht sein müssen, wirklich nicht. Cressphal immer noch ein Gefangener.
Anfänglich geht es ordentlich, er hat Arbeit, hofft auf einen Prozess und dass
es dann endlich ein Ende hat. Aber es kommt anders. Er kommt in ein anderes
Lager, wird mehr als schlecht behandelt. Auch wenn er sich von allem fern hält,
immer wieder wird er geschlagen und gedemütigt. Er ist in der Zwischenzeit 58
Jahre alt, da verträgt ein Körper solche Strapazen nur schwer. Davor hatten sie
ihn nochmals gezwungen, sein Leben aufzuschreiben. 280 Seiten hat er zusammen bekommen,
aber sie waren nicht zufrieden und schickten ihn eben weiter. Manchmal erfährt
er etwas Hilfe, aber er ist der ‚bunte Vogel’ unter den anderen. So gut es geht
bleibt er sich treu, was ihm aber nicht immer von Vorteil ist. Die Russen, die
die Lager leiten, sind gar nicht mal so schlimm, schlimm sind die deutschen
Kapos, die noch gut wissen, wie man Menschen nicht nur erniedrigt sondern auch
schlägt. Wie hält man so was aus?
Sonntag, 3. Juni 2012
3. Juni 1968
Langer Eintrag. Oster 1946. Cresspahl noch
immer nicht zurück. Gesine bemerkt nach wie vor, das Jakob und Hanna oft zu
zweit spazieren gehen, sie versucht es zu ignorieren. Ein Care-Paket kommt,
wenn auch schon zerfleddert. Erst spät kapiert Marie den Hinweis – eine
Fotografie dreier strammer Schäferhunde – dass es von Dr. Seming kommt, der
anscheinend in Berlin untergekommen ist. Die Sowjets sind weiterhin übergriff,
so werden Leslie Danzmann im Juni 1946 auf offener Straße die Schuhe geklaut –
keiner hilft ihr. Ende Juni schließt die Sowjetische Miliäradministration die
Grenze ihrer Zone zu den Allierten. „Es waren von ihrem Neuen Leben zu viele
Leute weggelaufen …“. Gesine und Hanna kommen im Sommer auf’s Land zu helfen.
Anstrengend, schwer, aber mal was anderes und das Essen ist auch besser. Jakob
kommt, wie versprochen, zu Besuch. „Wir merkten es bald, wenn er vor dem Gut
war. Dann blieb Anne-Dörtes Stuhl beim Abendbrot leer (…) Manchmal waren bei
der Rückkehr ihre Haare naß, Jakobs auch. Wir wussten nun, warum wir kein Bett
eigens für Jakob gefunden hatten. In Jakobs Besuchsnächten lagen wir still …
taten schlafend vor einander; keine ist von den Tränen der anderen aufgewacht
…“ Frühes Liebesleid würde Thomas Mann jetzt vielleicht sagen. Ende August wird
er Rest der Ernte durch ein Unwetter zerstört, dann geht es wieder zurück nach
Jerichow. Dort laufen auf einmal alle Frauen in Kleider rum, „am Hals hatten
sie Knöpfe offen, ihre schweren Arme waren blank und unbescheiden“. Grund: Die
Russen sind weg. Nicht ganz weg, vom neuen Stadtkommandanten ‚nur’ in ihre
Kasernen verband, kein Ausgang mehr. Es folgt eine kleine Verhaftungswelle für
einen Tag, man will mehr über Cresspahl wissen. Und dann, ja dann verlässt auch
noch Hanna Jerichow, sie macht rüber zu der Fischerverwandtschaft. „Es ging
Gesine später auf, daß sie umarmt worden war wie es einem Jungen zukam.“ Und:
„Als Gesine mit dem Sonnenaufgang zurückgekommen war zu dem leeren Bett, hatte
sie neben ihren Holzpantoffeln die von Hanna gefunden, alle vier ordentlich
nebeneinander ausgerichtet.“ Sie kann einem echt leid tun, so richtig hat sie
nun niemanden mehr.
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