Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 9. Juni 2012

9. Juni 1968


Amtlicher Trauertag der Nation, aber Gesine, Marie und D.E. sind auf und über das Land, schließlich bei D.E.’s Mutter. Man bereitet ein großes Essen vor, derweil D.E. und wohl auch Johnson Gesine animieren wollen, Marie weiter zu erzählen. Aber die will nicht von den sowjetischen Lagern sprechen, in denen der alle Cresspahl noch immer nicht, auch nicht von ihrer Schulzeit, die man sich ja vorstellen kann: Die Russen sind nun die besten Menschen der Welt und haben auch alles erfunden was wichtig ist. „Wann ungefähr soll Marie die Lektion denn so nachholen? / Mit fünfzehn … / Das Jahr 53 bekommt sie dann zur Volljährigkeit. Dein Ableben dürfen wir ihr erst mitteilen, wen sie selber auf dem Totenbett liegt.“ Das Rededuell geht unentschieden aus. Ach so, das Abendessen noch, D.E.: „Ursprünglich habe er auch an diesem Tage wieder die Familie Cressphal heiraten wollen, er sei jedoch beruflich verhindert …“ Er plant jetzt für September. Der letzte Satz des heutigen Eintrages: „Paßt es uns im September? fragte Marie.“

Freitag, 8. Juni 2012

8. Juni 1968


Marie ist absolut nicht vom Fernseher wegzubekommen. Weiter geht es mit dem Betrachten des Leichenzuges, der sich wohl über zwei Tage hinzieht. D.E. ist gekommen, Gesine bittet ihn flehentlich, Marie von der Kiste wegzubekommen. Aber er setzt sich neben sie, mit Tabak und Rotwein und schaut den Vormittag erstmal durch. „… erst gegen zwei Uhr beweist er ihr mit Annies vorgewärmtem Badethermometer sowie auch wahnwitziger Wissenschaft, dass nun eine Implosion des Geräts vorgebeugt werden muß.“ Dann geht’s erst mal schwimmen – und der Abend wird wieder vor der Kiste verbracht. D.E. und Marie mokieren sich etwas über das Verhalten der Witwe, die scheinbar die Aufmerksamkeit genießt und halten durch, dass immer das Selbe gezeigt wird. Aber Marie ist das wichtig und als sie dann nachts im Auto sitzen in Richtung der Wälder von New Yersy, so wie es D.E. geplant hatte, bedankt sie sich bei ihrer Mutter. Johnson lässt natürlich nicht aus, einen Vergleich der Trauer im Fernsehen mit dem Straßenleben anzustellen. – normaler Samstag eben. Die Beerdigung von Willi Brandt und Johannes Paul II. schaute ich bei anderen Leuten an und empfand es auch sehr eigenartig, wie draußen vor der Tür das Leben so normal weiter geht. In „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ gibt es das vielleicht etwas kitschige, aber dann doch sehr passende Gedicht dazu.

Haltet alle Uhren an, laßt das Telefon abstellen,
Hindert den Hund am bellen, indem ihr ihm einen Knochen gebt,
Klaviere sollen schweigen, und mit gedämpftem Trommelschlag,
Laßt die Trauernden nun kommen, tragt heraus den Sarg.

Laßt Flugzeuge kreisen, klagend im Abendrot,
An den Himmel schreibend die Botschaft Er ist tot;
Laßt um die weißen Hälse der Tauben Kreppschleifen schlagen,
Und Verkehrspolizei schwarze Baumwollhandschuh’ tragen.

Er war mein Nord, mein Süd, mein Ost und West,
Meine Arbeitswoche und mein Sonntagsfest,
Mein Gespräch, mein Lied, mein Tag, meine Nacht,
Ich dachte, Liebe währet ewig: Falsch gedacht.

Die Sterne sind jetzt unerwünscht, löscht jeden aus davon,
Verhüllt den Mond und nieder reißt die Sonn’,
Fegt die Wälder zusammen und gießt aus den Ozean,
Weil nun nichts mehr je wieder gut werden kann

(W. H. Auden)

Donnerstag, 7. Juni 2012

7. Juni 1968


Gesine vermutet Marie auf dem Leichenzug für Kennedy. Die sitzt aber zu Hause vor dem Fernseher und schaut es sich dort an.

Mittwoch, 6. Juni 2012

6. Juni 1968


„Vorläufige Notizen für fakultativen Aufsatz“. Auf acht Seiten Materialsammlung zum Tod von Kennedy. Lebenslauf von ihm, dem Mörder, versuchte und geglückte Attentate, zeitlicher Ablauf. Fleißig, fleißig, Marie!

Dienstag, 5. Juni 2012

5. Juni 1968

Marie und Gesine sehr aufgeregt. Senator Kenney ist angeschossen worden (und sollte dann am nächsten Tag sterben). Und Marie besorgt gegen Leihgebühr einen Fernsehen, um nachrichtenmäßig auf dem Laufenden bleiben zu können.

Montag, 4. Juni 2012

4. Juni 1968


Was für ein langer Eintrag. Und das heute. Das hätte echt nicht sein müssen, wirklich nicht. Cressphal immer noch ein Gefangener. Anfänglich geht es ordentlich, er hat Arbeit, hofft auf einen Prozess und dass es dann endlich ein Ende hat. Aber es kommt anders. Er kommt in ein anderes Lager, wird mehr als schlecht behandelt. Auch wenn er sich von allem fern hält, immer wieder wird er geschlagen und gedemütigt. Er ist in der Zwischenzeit 58 Jahre alt, da verträgt ein Körper solche Strapazen nur schwer. Davor hatten sie ihn nochmals gezwungen, sein Leben aufzuschreiben. 280 Seiten hat er zusammen bekommen, aber sie waren nicht zufrieden und schickten ihn eben weiter. Manchmal erfährt er etwas Hilfe, aber er ist der ‚bunte Vogel’ unter den anderen. So gut es geht bleibt er sich treu, was ihm aber nicht immer von Vorteil ist. Die Russen, die die Lager leiten, sind gar nicht mal so schlimm, schlimm sind die deutschen Kapos, die noch gut wissen, wie man Menschen nicht nur erniedrigt sondern auch schlägt. Wie hält man so was aus?

Sonntag, 3. Juni 2012

3. Juni 1968


Langer Eintrag. Oster 1946. Cresspahl noch immer nicht zurück. Gesine bemerkt nach wie vor, das Jakob und Hanna oft zu zweit spazieren gehen, sie versucht es zu ignorieren. Ein Care-Paket kommt, wenn auch schon zerfleddert. Erst spät kapiert Marie den Hinweis – eine Fotografie dreier strammer Schäferhunde – dass es von Dr. Seming kommt, der anscheinend in Berlin untergekommen ist. Die Sowjets sind weiterhin übergriff, so werden Leslie Danzmann im Juni 1946 auf offener Straße die Schuhe geklaut – keiner hilft ihr. Ende Juni schließt die Sowjetische Miliäradministration die Grenze ihrer Zone zu den Allierten. „Es waren von ihrem Neuen Leben zu viele Leute weggelaufen …“. Gesine und Hanna kommen im Sommer auf’s Land zu helfen. Anstrengend, schwer, aber mal was anderes und das Essen ist auch besser. Jakob kommt, wie versprochen, zu Besuch. „Wir merkten es bald, wenn er vor dem Gut war. Dann blieb Anne-Dörtes Stuhl beim Abendbrot leer (…) Manchmal waren bei der Rückkehr ihre Haare naß, Jakobs auch. Wir wussten nun, warum wir kein Bett eigens für Jakob gefunden hatten. In Jakobs Besuchsnächten lagen wir still … taten schlafend vor einander; keine ist von den Tränen der anderen aufgewacht …“ Frühes Liebesleid würde Thomas Mann jetzt vielleicht sagen. Ende August wird er Rest der Ernte durch ein Unwetter zerstört, dann geht es wieder zurück nach Jerichow. Dort laufen auf einmal alle Frauen in Kleider rum, „am Hals hatten sie Knöpfe offen, ihre schweren Arme waren blank und unbescheiden“. Grund: Die Russen sind weg. Nicht ganz weg, vom neuen Stadtkommandanten ‚nur’ in ihre Kasernen verband, kein Ausgang mehr. Es folgt eine kleine Verhaftungswelle für einen Tag, man will mehr über Cresspahl wissen. Und dann, ja dann verlässt auch noch Hanna Jerichow, sie macht rüber zu der Fischerverwandtschaft. „Es ging Gesine später auf, daß sie umarmt worden war wie es einem Jungen zukam.“ Und: „Als Gesine mit dem Sonnenaufgang zurückgekommen war zu dem leeren Bett, hatte sie neben ihren Holzpantoffeln die von Hanna gefunden, alle vier ordentlich nebeneinander ausgerichtet.“ Sie kann einem echt leid tun, so richtig hat sie nun niemanden  mehr.