Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 31. Dezember 2011

31. Dezember 1967

Es gibt ein Festessen im Hause Gesine Cresspahl. Schmorbraten. D.E. ist da und wird integriert, als das was er ist – nicht zur Familie gehörend. Er würde Gesine wohl gerne heiraten, aber sie – warum auch immer – nicht. Alle drei verstehen sich gut, doch D.E. weiß um seine Stellung, auch wenn er gerne mehr für die beiden machen würde. Aber er findet sich damit ab.

Freitag, 30. Dezember 2011

30. Dezember 1967


Cressphal, der „Engländer“ in Jerichow ist nach wie vor etwas ein Außenseiter. Nicht nur, weil er mit dem Juden Semig Verkehr hat, sondern, weil er sich aus vielem raus hält. Die Papenbrocks sind in der Stadt nicht wirklich angesehen, auch wenn sie so tun. Horst, der Sohn, zurück aus Rio de Janeiro „brüllt mit seinen Gesonnen die Chausseebäume“ nicht mehr an, „weil er einem Ausländer namens Adolf Hitler etwas geschworen hatte“. Auch er hält sich nun zurück. Dagegen nicht der verschollene Bruder – von dem man immer noch verdammt wenig weiß – der in Landeshauptstadt wohnt und das Gerücht umgeht, er wäre bei der Geheimpolizei.

Donnerstag, 29. Dezember 2011

29. Dezember 1967


Zu bezahlen war heute im Gemüsegeschäft 3,54 $, im Feinkostgeschäft 8,41 $ und beim Schlachter 8,24 $. Macht zusammen 20,19 $. Auf die Spekulation, was man mit den Einkäufen hätte machen können, verzichte ich aus Zeitnot.

Mittwoch, 28. Dezember 2011

28. Dezember 1967


Johnson bleibt heute etwas kryptisch, will mit der Sprache nicht so wirklich raus, ergeht sich in Andeutungen. Wenn ich das richtig verstanden habe, spricht man in Jerichow über die Ehe von Cresspahl mit Lisbeth. Da ergeht sich Johnson aber in Andeutungen, die sich mir nicht erschließen wollen. Scheinbar ist Lisbeth auch Stimmungsschwankungen unterworfen und hat sich nach wie vor der Kirche verschrieben. Das stößt bei Cresspahl nicht unbedingt auf Gegenliebe. Denn, wie gesagt, wenn ich es richtig interpretiere, verweigert sich Lisbeth dem ehelichen Akt, da es, wie es wohl bei Paulus heißt, dem Menschen gut tut, „daß er kein Weib berühre“. Aber immerhin löst sich heute der Besuch vom 27. November 1967 bei Elizabeth Trowbridge auf – mit der hatte Cresspahl jedenfalls ein Verhältnis was einen Sohn zur Folge hat. Er hat es Lisbeth gestanden, die sich darüber nicht aufregt sondern sagt: „Heinrich, dass sie doch hier lebte; nicht zu dicht an Jerichow, nicht zu weit. Könntest du mit ihr leben, und doch mit mir.“ Schon etwas eigenartig.

Dienstag, 27. Dezember 2011

27. Dezember 1967


Schwierig heute, vielleicht auch einfach nur uninteressant oder vielleicht auch noch nicht mit Bedeutung geladen. Ein Tag ‚zwischen den Jahren’. Marie hat schulfrei – „kinderglut“ heißt das dort – Gesine geht arbeiten, hat das ein oder andere zu tun. Die NYT hat den Erfinder des Napalms ausfindig gemacht, der sich für dessen „moralischen Aspekte“ der Verwendung als nicht zuständig erklärt. Nach meinem Eindruck halt so ein Tag, der an sich genommen ohne Besonderheiten ist, der aber genau das abbildet, was wohl 90 Prozent eines jeden Lebens ausmacht: Alltag.

Montag, 26. Dezember 2011

26. Dezember 1967

Lang der Eintrag bei Johnson, kurz bei mir. Lobegesang auf die gute alte New York Times - zwar nicht ganz unkritisch, aber wohlwollend.

Sonntag, 25. Dezember 2011

25. Dezember 1967

Johnons packt, pünktlich zu Weihnachten, eine kleine Überraschung aus. Gestern hieß es u.a.: "Zu Weihnachten 1936 war meine Mutter noch nicht tot. Noch Weihnachten 1937 war Lisbeht Cresspahl am Leben." Ich hätte es ja wissen können. Am ersten Weihnachstsfeiertag 1936 kommt Lisbeth ins Krankenhaus - Fehlgeburt. Das ist tragisch, aber Johnson spielt ein anderes, weiteres Thema an: die Schuld. "Meine Mutter hatte gehofft, mit dem zweiten Kind auch das eigene Leben zu verlieren, um zu entkommen aus der Schuld." Heftig, denn das ist nichts anderes als eine Art Suizid. Und warum? Johnson nennt viele Gründe, die alle für sich genommen nicht wirklich groß sind. Ihr Schuld mit Cresspahl nach England zu gehen "im heimlichen Wissen, daß sie mit ihm wohl leben wollte, jedoch nicht in der Fremde." Sie hat versucht, damit umzugehen doch "ihre Schuld hatte dann viel Verwandschaft bekommen". Alles läuft eben darauf hinaus, wenn man einmal in die falsche Richtung geht und keinen Mut hat, umzukehren, sondern nur vermeintliche Korrekturen vornimmt, dann bleibt man in der falschen Richtung. Spontan fällt mir Thomas Bernhard, ich glaube, es steht im "Keller" ein, der in diesem autobiographischen Roman seine Suche nach einer Lehrstelle schildert und im Arbeitsamt die allerersten Adressen genannt bekommt. Er will aber in die "entgegengesetzten Richtung", was niemand versteht. Ist eigenltich echt klasse gemacht, an Lisbeth eine Nation vorzuführen, die in die falsche Richtung ging, sich hat in diese treiben lassen (wie man das nun auch immer nennen will, ich erlaube mir nach wie vor kein Urteil darüber) und merkt, das was nicht stimmt. Und diese Nation wird in Form von Dr. Berling nochmals aufgeführt, der Lisbeth untersucht und sie ins Krankenhaus einweist. Der habe sich, so heißt es im Text, verändert und dann, quasi als Zusammenfassung: "Der trank nicht mehr, woh ihn einer abhören konnte." Einer also, der merkt, dass es die falsche Richtung ist, der aber nichts dagegen tut bzw. tun kann und Korrekturen vornimmt. Gestern erzählte mir meine Mutter ein ganz klein wenig, wie sie diese Zeit (als Kind) erlebt hat. Ja, sagte sie, man merkte schon, dass ein Jude nach dem anderen aus der Straße verschwand. Aber für sie als Kind, was hätte sie interpretieren können? Und ihr Vater, mein Opa (den ich nie kennen gelernt habe und der blind war) meinte unter vorgehaltener Hand: "Wir müssen den Krieg verlieren - denn ansonsten werde ich als 'unwertes Leben' um die Ecke gebracht."