Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 3. September 2011

3. September 1967

Wir springen zurück nach 1931. Cresphal – so deute ich das mal – hält um die Hand von Gesines Mutter an. Das ‚passiert’ in eingeschobenen, kurzen Dialogen. Kontrastiert das Ganze von der Berichterstattung der New York Times am heutigen Tag über den Selbstmord von Ilse Koch, der „Bestie von Buchenwald“. [Ilse Koch, 22.9.1906 - 2.9.1967, Ehefrau des Kommandanten des KZ Buchenwald; berüchtigt wegen ihrer sadistischen Behandlung der Gefangenen.] Dazwischen die Frage: „Would you care to be my wife?“ Und am Ende erfahren wir nun auch mal, wie der alte Cresphal mit Vornamen heißt: Heinrich – wenig überraschend, finde ich.

Freitag, 2. September 2011

2. September 1967

Erinnerungen an den Anfang in New York, als „Marie ihr die ersten Nachbarn“ zuführte. Das Kind macht den Kontakt, bzw. der Kontak geschieht über das Kind. Heute sind es ja vorzugsweise Hunde. Mrs. Ferwalter wird eingeführt, eine „stämmige Person, die gern Hängekleider in roten Farben trägt“. Slowakische Jüdin mit einer Nummer an ihrem linken Unterarm. Mauthausen. “Danach können wir sie nicht fragen“ heißt es mehrfach – die Scheu dem Gräul in die Augen zu sehen, dem Leiden eine Stimme zu geben. Was sie verbindet? Weil „diese Deutsche den Geschmack des Brotes kennt, den sie entbehrt“. Es ist das Europäische, was die beiden in Amerika näher kommen lässt, das Bewusstsein, fremd zu sein.

Donnerstag, 1. September 2011

1. September 1967


Die Frage vom 30. August klärt sich heute. Gesine hat einen Freund, bisher als D. E. vorgestellt. Ist so ein netter, der sie anscheinend auf Händen trägt, ihr Blumen schickt, mit Essenseinkäufen kommt – klassisch halt. Beschrieben wird er als fast 40-Jähriger mit grauem Haar. Zwischenfragen: Wie alt dürfte dann Gesine sein? Er arbeitet im Rüstungssektor und ist Geheimnisträger. Er stammt, wie Gesine, aus Ost-Deutschland, hat, wie sie, das Land verlassen. Der ehemalige Physik-Student kam über West-Deutschland und England 1964 in die USA. Getroffen haben sie sich beide zum ersten Mal im Flüchtlingslager Marienfelde. Beide wollten weg, er musste wohl, weil er sich kritisch geäußert hat. Damals, noch blond, bemühte er sich schon um sie. Interessanterweise lebt er mit seiner Mutter zusammen in einem alten Kolonistenhaus. (Das gibt ja immer schon so ein bisschen zu denken.) Marie mag ihn übrigens sehr, nicht nur weil er „in Sprachen ein Papagei“ ist.

Mittwoch, 31. August 2011

31. August 1967


Frage: Wie stellt sich Gesine die New York Times (NYT) als Person vor. Antwort: Als hagere, ältere Tante aus vornehmer Familie mit zerkratzter Stimme die raucht und auch harte Sachen trinkt. Die Tante kann kochen, backen, ist ledig geblieben, gibt Ratschläge in Ehefragen und ist modern. Johnson beschreibt das in aller Ausführlichkeit – es ist eine Liebeserklärung, auf die heute wohl alle Tageszeitungen verzichten müssen – aber den Standard, den die NYT hatte, den gibt es eh so gut wie nirgends mehr.
Schön die Definition von Kindergärtnerinnen: „Heldinnen der Bevormundung“.

Dienstag, 30. August 2011

30. August 1967

Gesine bekommt einen Brief oder eine Nachricht. Unterzeichnet mit „Mary Fenimore Cressp. Cooper“. Die beiden scheinen sich gut zu kennen, sehr vertrauter Ton und Themen der Alltäglichkeit „Was du brauchst ist im Eisschrank“. Freundin? Freund? Und wir wissen jetzt, Gesine muss Überstunden machen, glaube aber nicht, dass das für den Fortgang des Romans von Bedeutung ist. Aber es tröstet ein wenig, wenn es den literarischen Helden nicht anders ergeht als einem selbst.

Montag, 29. August 2011

29. August 1967

Wieder starke Bilder aus New York. Die Bank, in der Gesine arbeitet, wird beschrieben. Dann noch die „Nachrichtentoten dieses Tages“. Eigentlich wollte ich schon längst mal eine Statistik führen, wie viele Tote im Durchschnitt pro Nachrichtensendung aufgezählt werden. Ein einzelner nur dann, wenn er berühmt war, sonst habe ich den Eindruck, es müssen schon mindestens zehn sein, dass sie eine Meldung wert sind. Und je weiter weg, desto höher muss auch die Zahl sein.

Sonntag, 28. August 2011

28. August 1967

Jerchiow hatte Anfang der 30er Jahre 2.151 Einwohner und liegt (angeblich) zwischen Lübeck und Wismar. Dann folgt eine genaue Beschreibung. Dörflich eher und eher arm. Irgendwie ‚vergessen’ aber dennoch so lebendig, wie Dörfer, kleine Städte es halt sind: provinziell fällt mir noch ein. Cresphal, der spätere Vater von Gesine (siehe 23. August) schaut sich um, beobachtet die Familie der späteren Mutter. Und es wird ihm klar, dass ein weiterer Tischler in Jerichow nicht gebraucht wird. Ist er denn Tischler?