Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 11. August 2012

11. August 1968


Harter Tobak heute, finde ich. Jedenfalls hauen die kurzen Erzählungen von Rebecca Ferwalter, der Nachbarin, total rein. Eigentlich treffen sie Marie und Gesine ‚nur’ mit ihr um das „Koschere am Speisezettel“ zu besprechen, weil Marie noch eine „Kinder-Gesellschaft“ geben will, „jedoch ohne daß es hieße: zum Abschied“. Ferwalter will „Passovergebäck“ beisteuern und in dem Zusammenhang erzählt sie aus ihrer Zeit in Auschwitz und Mauthausen. Wenn man das liest und es sich vorstellt, ist es schon grausam genug finde ich (aber wer will sich dass den schon wirklich vorstellen?). Aber bei solchen Beschreibungen muss ich sofort an Martha denken, die zwar nicht in Auschwitz war, aber dafür fünf Jahre in Ravensbrück, und die ich Stund um Stund befragte und die mir Stund um Stund antwortete, erzählte und berichtete. Und manchmal weiß ich nicht, was die größere Leistung ist: Ravensbrück überleben oder danach nochmals mit einem Deutschen zu reden, ihn als Gast auf das herzlichste zu begrüßen, für ihn zu kochen, ihm alle Erdenkliche Annehmlichkeiten und Vorzüge zukommen zu lassen, ihn nicht nur in die Arme sondern auch ins Herz zu schließen?

Freitag, 10. August 2012

10. August 1968


Wieder Nachrichten aus der Schulzeit Gesines. Interessanter dagegen der letzte Absatz: „Zu Hause am Riverside Drive wartet das tägliche Telegramm aus Helsinki. Heute lautet es: Patient ist für eine Weile verhindert am Autofahren. Unterschrieben. Eritzen.“ Und so was gab es auch schon vor zwei Tagen. Da hieß es, D.E. hätte einen Unfall gebaut, ebenfalls von ‚Eritzen’ unterschrieben. Also doch nicht tot? Alles nur fingiert?

Donnerstag, 9. August 2012

9. August 1968


Annie und ihre drei Kinder, die sich vor ein paar Monaten wegen Vietnam von ihrem Mann getrennt hatte, ist aus der finnischen Kleinstadt wieder zurück, trifft sich mit Gesine, bevor sie sich wieder ihrem „angetrauten Mann heulend an die Brust“ wirft. Nun gut. Dann ein langer Bericht von Anita, wie es in Jerichow derzeit aussieht. So wie früher und doch ganz anders.

Mittwoch, 8. August 2012

8. August 1968


„Eine Todesnachricht überbringen.“ Gesine fährt zu D.E.’s Mutter. Bei der waren schon zwei, die das Arbeitszimmer durchsuchen wollten. „Sie sitzt [die Mutter] wie bereit für eine Hinrichtung. Es folgt der Schlag, das Knicken im Nacken, das Absacken des Körpers, der ihn verkleinert. Und was dann? Dann schwenkt Johnson um und Robert Pius Pagenkopf ist ausführliches Thema. Um es kurz zu machen: Er meldet sich 1951 zur Armee, wird Pilot, wird später von den Russen übernommen und stirbt 1964 bei einem Absturz. Er und Gesine haben die Verbindung nie abreißen lassen, „rostfrei“ war die alte Freundschaft. Derweil erfahren wir: „1953 nahm Gesine Cresspahl Wohnung im Hessischen, im Westen“, wechselt irgendwann nach Düsseldorf, macht dort eine Banklehre, wird nach den USA zur Weiterbildung „spediert“, ist in der Zwischenzeit Mutter, verliert aber dort ihren Job, bleibt, wie wir sie jetzt kennen. Mich wundert schon, dass Trauer kein Thema ist. Oder ist das alles nur ein literarischer Scherz?

Dienstag, 7. August 2012

7. August 1968


Marie weiß vom Todesfall noch nix. Gesines Büro wird umgebaut, sie bekommt frei, will aber ihren Chef sprechen, der hat keine Zeit. Nochmals ein Telefonat mit Anita, Gesine bezeichnet sich selbst als „doppelte Witwe, die von ihren Beerdigungen beide verpasst“. Die gestern gekauften Koffer kommen. Und dann – eigentlich unglaublich – ein langes Gespräch zwischen Mutter und Tochter, doch das Thema ist nicht D.E., sondern Gesines ersten Verehrer

Montag, 6. August 2012

6. August 1968


Hat er noch nicht gemacht, der Johnson, heute wird durchnummeriert und es wird dramatisch: I. Gesine bekommt verdammt zügig einen Scheck für das Gestohlene von letzter Woche und Bucht im bankeigenen Reisebüro einen Flug für zwei nach Kobenhagen, man will dort wohl Anita treffen, die rote. – II. Gesine beim Koffer kaufen, als sie den Scheck zückt, wird sie doof angeschaut. – III. Kleine Meldungen aus der NYT. – IV. Gesine soll jemand in New York anrufen, – V. „Wer eine Reise unternimmt, er soll seinen Letzten Willen hinterlassen.“ Und so erfahren wir: Maries Vater ist – Trommelwirbel –: Jakob Wilhelm Joachim Abs! Wer hat das nicht geahnt? – VI. Gesine bei einem Hr. Josephberg, den sie anrufen sollte, dringend! Der überbringt ihr die Nachricht, das D.E. am Samstag in Finnland abgestürzt ist – tot! Die Regierung hat verhindert, dass es bekannt wird. Sie wird Alleinerbin. – VII. Gesine zieht sich in ihr Büro zurück, Erinnerungen. – VIII. Anita ruft kurz an. – VIII. Kurzes, englisches Gespräch zwischen Fr. Erichson und wem?. – X. Gesine nimmt eine Sendung auf: „D.E. hat uns gebeten, das für ihn auf Band zu nehmen, wie werden wir denn das vergessen.“

Sonntag, 5. August 2012

5. August 1968


Langer Eintrag mal wieder und einer, den ich nur schwer einordnen kann. Dieter Lockenvitz ist Thema, auch ein Schulkamerad von Gesine und Pius, den sie in ihre „Arbeitsgemeinschaft“ einladen. Wenn ich das richtig verstehe, aber nur zum lernen, so richtig befreunden tun sich beide nicht mit ihm. Lockenvitz ist nicht doof in der Birne, will mal Lateinlehrer werden (nun ja) und ist wohl auch nicht wirklich staatstreu. Das liegt aber wohl in der Familie. Gesine weiß zwar noch einiges über ihn und seine Familie, bemerkt aber am Ende: „... dies ist alles, was ich von Dieter Lockenvitz zu wissen glaube.“