Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Samstag, 14. Januar 2012

14. Januar 1968

Was heute aus dem Eintrag herauszulesen ist: Gesine und Marie nehmen ihre Gespräche auf Band auf – oder Marie hört sie ab, was Gesine darauf erzählt? So klar ist das nicht, aber ein Band existiert, denn heute will Marie eine andere Bandposition als Gesine. Annie stößt dazu, dass es zu einem Dialog von drei kommt – wer was spricht ist nur äußerst schwer auszumachen. Semig ist das Thema, der ja in Haft sitzt. Er habe 1933 angeblich gegen ein Gesetz verstoßen. Und jetzt, 1937, wird gesucht – und da findet sich allerhand, Erinnerungen sind ja nicht wirklich zuverlässig. Und egal, was es ist, es könnte gegen ihn verwandt werden. „Was die Gestapo an Beweisen nicht holte, das lief ihnen in Briefen ohne Absender zu.“ Und: Papenprock  und Cresspahl haben, mit noch fünf anderen, ebenfalls eine Zeugenladung bekommen.

Freitag, 13. Januar 2012

13. Januar 1968

Johnons ist heute gnädig mit mir, habe nämlich wirklich wenig Zeit und ver-gessen das Buch heute mitzunehmen. Es ist mal wieder Ferry-Tag. Diesmal nicht zu zweit, sondern mit Annie und den Kinder, da wird Marie zur Fremdenführerin. Zwischendrin beschwert sie sich aber bei Gesine, dass sie eine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt hat. Sie versucht sich zu verteidigen … aber da kommen schon wieder die anderen zurück.

Donnerstag, 12. Januar 2012

12. Januar 1968

Recht spannend heute. Kurze Bericht, wie es mit Annie und den Kindern gemeinsam in der Wohnung ergeht: sie kommen gut miteinander aus, Marie wird behandelt wie der Vorstand des Hauses, weil sie weiß, „wie deine Mutter es macht“ und um Gesine wird sich ebenfalls rührend gekümmert. So sauber, will es scheinen, war die Wohnung noch nie. Doch das eigentlich ist ein Gespräch zwischen Gesine und – ja wem? – einem Art ‚uns’ und man darf vermuten, dass sich Johnson selber dahinter versteckt. Und da kommt raus, dass Gesine dann doch einige Vorbehalte gegenüber Annie hat, nach fünf Jahren ohne Nachsendeadresse einfach abzuhauen zum Beispiel. Und als Gast in einem Land gegen dessen Politik zu demonstrieren behagt ihr auch nicht so. Sie steht zwar kritisch der Politik gegenüber und will weiter in dem Land leben, „weil es das Leben von Marie geworden ist“. Kinder – so meine Erfahrung – sind als Ausreden immer hervorragend zu miß-/ge-brauchen. Andererseits tritt eine gewisse Dickköpigkeit von Gesine an Tag, die meinem Gefühl nach eher eine Art Trotzreaktion ist, eher so etwas wie dem Wunsch entspringt, an ihren Mädchenträumen festzuhalten. Gesine war bisher für mich eine eher taffe, sehr überlegte Frau, aber mit dem heutigen Eintrag bekommt sie so eine Art Kante, die zwar noch nicht zum Kopfschütteln führt, aber ich gehe mal einen Schritt zurück.

Mittwoch, 11. Januar 2012

11. Januar 1968

Man kann jetzt wohl nicht behaupten, dass Cressphal seinen Hof verbarrikadiert hätte, aber es ist doch alle so eingerichtet, dass keiner unbemerkt reinkommt. Geschickt gemacht, gerade jetzt, wo jeder zu Lisbeth will, um sie wegen der Vorladung – je nach Ausrichtung – ins Gewissen zu reden. Aber a) schüchtert Cresspahl gekonnt die Besucher ein und b) weiß sich Lisbeth zu wehren. Ihr Vater ist jedenfalls erschüttert, dass es bei Lisbeth nicht half, „was bei Louise regelmäßig geholfen hatte“. Er findet es „unerfindlich, daß Einer die Frau nicht anbrüllt“. Und was tut Lisbeth? Sie geht ins Wasser! Will sich ertränken, wird aber gerade noch gerettet und verspricht ihrem Mann: „Dat dau ich nich noch eins: Nich so.“ Suizidgefährdet also und da wir wissen, dass sie nicht mehr lange leben wird … Es war für mich letztes Jahr schon eine sehr überraschende Erfahrung, wie viele nicht nur schon ernsthaft an Suizid gedacht, sondern auch Versuche unternommen haben. So eine Ausnahme ist das nicht. Wie wird Semig reagieren, den sie jetzt verhaftet haben? Cresspahl wird mir immer undurchsichtiger. Entweder wird er immer verschrobener oder er hat – als einziger – Ahnungen.

Dienstag, 10. Januar 2012

10. Januar 1968

Etwas geschwätzig heute, der gute Johnson. James R. Shuldiner taucht mal wieder auf, der schon mal mit Gesine Essen war. Er will heiraten, nein, nicht Gesine, wie es am Anfang den Anschein macht. Er will nur von ihr die Hilfe, eine Wohnung in ihrem Stadtviertel zu finden – scheinbar. Denn erst fünf (!) Seiten später läst Johnson die Katze aus dem Sack. Shuldiner hatter vielmehr die Hoffnung, in die Gegend ziehen zu können, das Gesine seiner Frau eine Freundin werden könnte. Dazwischen Ausführungen über die Soziologie des Stadtviertels – rauschte aber an mir vorbei.

Montag, 9. Januar 2012

9. Januar 1968

Horst Papenbrock will sich im Sommer 1937 zur Wehrmacht melden. Die Folgen: der olle Papenbrock rastet aus, enterbt ihn, so gut es geht, seine Schwester ist entsetzt. Nur Cresspahl bleibt mal wieder ruhig: „Denn sie werden ihn ja nicht nehmen.“ Und so ist es auch. Mit 37 Jahren für den Dienst an der Waffe zu alt, also zieht er mit seiner Frau Elisabeth Lieplow nach Güstrow, „wo er sich mit der Verwaltung von Saatgut in einem nationalsozialistischen Sinne befasste“. Lisbeth Cresspahl bekommt aber eine Vorladung als Zeugin vor das Landgericht. Die Anklage lautet auf „Verunglimpfung eines nationalsozialistischen Amtsträger“, erstattet von ihrem Bruder Robert, dem Ominösen, wie ich ihn nach wie vor nenne. Der ist aber gerade auf Dienstreise in den Staaten und wird erst Anfang 1938 zurückerwartet. Das könnte noch ein heißer Tanz werden.

Sonntag, 8. Januar 2012

8. Januar 1968

Zufall oder Absicht, dass Annie, um die es heute geht, am 8. Oktober zum ersten Mal mit Namen aufgetaucht ist? Sie hat jedenfalls ihre drei Kinder – Fredric F. jr., Annina, Francis R. – genommen und ist von Hause weg. Hat ihren Mann Frederic sitzen lassen. Grund: Sie ist gegen den Vietnam Krieg, er dafür. Gesine bemuttert sie, bietet ihr die Wohnung an, bittet sie, sie möge zumindest in Amerika bleiben und nicht nach Finnland (zurück?) gehen. Eine besorgte Freundin eben. In meinem Bekanntenkreis hat sich zwar auch schon das ein oder andere Paar getrennt, aber aus politischen Gründen echt  noch keins. Entweder ist Politik nicht mehr so wichtig, oder nicht mehr so interessant oder man ist toleranter? Oder lassen wir die Themen einfach nicht mehr so ran und – ich hatte das ja schon – fernsehn es weg? Eine un-beteilige Gesellschaft. Und hab’ ich schon mal erwähnt, dass mit der Stil von Johnson mir manchmal etwas auf die Nerven geht?