Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Freitag, 8. Juni 2012

8. Juni 1968


Marie ist absolut nicht vom Fernseher wegzubekommen. Weiter geht es mit dem Betrachten des Leichenzuges, der sich wohl über zwei Tage hinzieht. D.E. ist gekommen, Gesine bittet ihn flehentlich, Marie von der Kiste wegzubekommen. Aber er setzt sich neben sie, mit Tabak und Rotwein und schaut den Vormittag erstmal durch. „… erst gegen zwei Uhr beweist er ihr mit Annies vorgewärmtem Badethermometer sowie auch wahnwitziger Wissenschaft, dass nun eine Implosion des Geräts vorgebeugt werden muß.“ Dann geht’s erst mal schwimmen – und der Abend wird wieder vor der Kiste verbracht. D.E. und Marie mokieren sich etwas über das Verhalten der Witwe, die scheinbar die Aufmerksamkeit genießt und halten durch, dass immer das Selbe gezeigt wird. Aber Marie ist das wichtig und als sie dann nachts im Auto sitzen in Richtung der Wälder von New Yersy, so wie es D.E. geplant hatte, bedankt sie sich bei ihrer Mutter. Johnson lässt natürlich nicht aus, einen Vergleich der Trauer im Fernsehen mit dem Straßenleben anzustellen. – normaler Samstag eben. Die Beerdigung von Willi Brandt und Johannes Paul II. schaute ich bei anderen Leuten an und empfand es auch sehr eigenartig, wie draußen vor der Tür das Leben so normal weiter geht. In „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ gibt es das vielleicht etwas kitschige, aber dann doch sehr passende Gedicht dazu.

Haltet alle Uhren an, laßt das Telefon abstellen,
Hindert den Hund am bellen, indem ihr ihm einen Knochen gebt,
Klaviere sollen schweigen, und mit gedämpftem Trommelschlag,
Laßt die Trauernden nun kommen, tragt heraus den Sarg.

Laßt Flugzeuge kreisen, klagend im Abendrot,
An den Himmel schreibend die Botschaft Er ist tot;
Laßt um die weißen Hälse der Tauben Kreppschleifen schlagen,
Und Verkehrspolizei schwarze Baumwollhandschuh’ tragen.

Er war mein Nord, mein Süd, mein Ost und West,
Meine Arbeitswoche und mein Sonntagsfest,
Mein Gespräch, mein Lied, mein Tag, meine Nacht,
Ich dachte, Liebe währet ewig: Falsch gedacht.

Die Sterne sind jetzt unerwünscht, löscht jeden aus davon,
Verhüllt den Mond und nieder reißt die Sonn’,
Fegt die Wälder zusammen und gießt aus den Ozean,
Weil nun nichts mehr je wieder gut werden kann

(W. H. Auden)

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