Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Montag, 2. April 2012

2. April 1968


„Justiz in Mecklenburg während des Nazikrieges.“ Den Rest der viereinhalb Seiten mit Beispielen kann man sich ja wohl denken. Darunter auch der Eintrag. “Wilhelm Schröder … sagte … Was du glaubst heute noch an den Sieg?“ Zwei Jahre hat er dafür bekommen. Martha Baranowska hat für die gleiche Äußerung Ravensbrück bekommen, über vier Jahre. Ravensbrück, das war ein Frauen-KZ und Martha habe ich in meinen jungen Jahren oft in Polen besucht. Sie war „meine polnische Mutter“ und die Gespräche mit ihr bei ‚ner Flasche Cointreau gehören zu den wichtigsten in meinem Leben. Man sitzt nicht gerade oft einem KZ-Häftling gegenüber, der von Angesicht zu Angesicht aus der KZ-Zeit berichtet – mit einer ‚schonungslosen Distanz’, wie ich das nennen will. Ich bin auch mal auf der Rückfahrt von Polen über Ravensbrück gefahren. Ich glaube, ich war ganz froh, dass es an dem Tag geschlossen hatte. Denn aus den Erzählungen von Martha – und ich bin ja so froh, dass ich fünf abendliche Gespräche auf Casette aufgenommen habe – wäre mir das als ein Nachgeborener des Tätervolkes mehr als unerträglich gewesen und wäre dann immer noch nur ein leichter Schatten, wenn überhaupt, von dem gewesen, was sie und ihre „Mädchen“ erleben mussten. Und es gibt so skurrile Dinger dann. Die Freundin von Franz Kafka, Milena, war auch in Ravensbrück und Martha hat sie kennen gelernt. Und als Kafka-Fan ist es dann eigenartig jemanden zu kennen, die Milena kannte. Man ist quasi im ersten Moment stolz darauf – und im zweiten schämt man sich dafür wieder, denn mit was war diese Begegnung eigentlich erkauft worden? Über Martha könnte ich zwar keinen Roman schreiben, aber Seiten von Erinnerungen. Wie wir zusammen saßen im Wohnzimmer, die Haushaltshilfe das warme Gebäck brachte, sie den Cointreau köpfte – nach dem ersten Besuch war ich so klug, immer eine zweite Falsche dabei zu haben, die ich ihr beim Abschied dann gab – und mich schief anschaute und meinte: „Ich hab seit 40 Jahren nicht mehr geraucht – aber kannst Du  mir gerade mal eine drehen?“ Oder wie wir bei ihrem ältesten Sohn war und sie uns alle unter den Tisch getrunken hat? Oder als wir im Gespräch eine Nacht durchmachten, ich total fertig war und sie mal noch so nebenbei ihren behinderten Mann pflegte, den Haushalt schmiss … . Es sind heute zwei Zeilen, die eine Flut von Erinnerungen auslösen. Und da passt der Satz von Marcel Proust mal wieder wie die Faust aufs Auge: „Der Leser ist der Leser seiner selbst.“

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