Die "Jahrestage" von Uwe Johnson (1934-1984) erschienen in den Jahren 1970, 1971, 1973, 1983.

In 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt.

Mein Vorhaben: Zum jeweiligen Datum den Eintrag zu lesen und hier meine Gedanken, Kommentare zu posten


Donnerstag, 26. April 2012

26. April 1968


Längerer Eintrag – aber daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen – über Cressphal und den russischen Stadtkommandanten K.A. Pontij. Ein sehr ambivalentes Verhältnis. Einerseits wird Cresspahl dauernd mit der Todesstrafe gedroht, wenn er nicht alle Befehle unverzüglich durchführt, andererseits wird Cresspahl abends auf Gelage eingeladen. Als ein „Rotarmist“ der kleine Gesine das „Fünfmarkstück aus Kaisers Zeiten, das Lisbeth Cresspahl im Oktober 1938 bei Uhren-Ahlreep hatte zu einer Brosche fassen lassen, aus Trotz gegen die Goldräuberei der Nazis“ vom Hals reißt – also stiehlt – geht Cresspahl von Pontij und macht ihm „gegen wie Uhr nachts den Unterschied zwischen Münze und Schmuck“ klar – zwei Tage später hat Gesine die Brosche wieder. Dauernd sieht sich Cresspahl der Gefahr ausgesetzt, wegen Beleidigung der russischen Armee an die Wand gestellt zu werden, beispielsweise als er auflistet, wer wann wo vergewaltigt wird. Da sind zwei Männer in ihren Rollen, mehr oder weniger freiwillig angenommen. Da sind zwei Männer, die ihre Pflicht tun / tun müssen. Und da sind zwei Männer, die, wenn sie weder ihre Rollen noch ihre Pflicht tun müssten, sich wohl uneingeschränkt verstehen würden. Starker Eintrag über die Ambivalenz von Rollen, von Personen. Und genauso stark, im Sinne von eindrucksvoll, zu Beginn, denn man begeht in New York den „Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto vor fünfundzwanzig Jahren“. Und mir ist selten ein einzelner Satz untergekommen, der so machtvoll Dimensionen veranschaulicht: „Mehr als vierzigtausend Männer, Frauen und Kinder starben nach vierzig Tagen Kämpfen gegen deutsche Truppen, und dreitausend Lebende standen gestern auf Bürgersteig und Verkehrsinsel …“.

(Gestern über die NZZ auf einen Link gestoßen, die New York Times – die übrigens immer weniger vorkommt – hat ein tumblr-blog eingerichtet und zeigt grandiose (!) Bilder aus ihrem Archiv. Wer gucken will: http://livelymorgue.tumblr.com/.)

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